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Die Entfuehrten

Titel: Die Entfuehrten
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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wir alles hatten, was wir uns je gewünscht haben.«
    Jonas’ Eltern konnten unglaublich sentimental sein. Eigentlich hatte er nicht viel an ihnen auszusetzen – für Eltern waren sie ganz in Ordnung. Aber die Geschichte davon, wie aufgeregt sie gewesen waren, als plötzlich dieser Anruf kam und sie Jonas bekamen, erzählten sie einfach viel zu oft.
    Und wenn er schon dabei war, seine Beschwerden aufzulisten, wäre es ihm wirklich lieber gewesen, sie hätten ihn nicht ausgerechnet nach einem Kerl benannt, der von einem Wal verschluckt worden war. Aber das fiel eher unter die Rubrik »Kleinigkeiten«.
    Er zielte genau und beförderte den Ball sauber durch das Netz. Ohne Ringberührung – ein perfekter Wurf.
    Chip ließ sich neben der Auffahrt ins Gras fallen.
    »Mann«, sagte er. »Du schaffst es garantiert in die Basketballmannschaft.«
    Jonas fing den Ball unter dem Korb wieder auf.
    »Wer sagt denn, dass ich das will?«
    Chip richtete sich auf.
    »Willst du denn nicht?«, fragte er. »Du musst! Das wollen alle! Die Basketballer kriegen alle Mädchen ab!«
    Aus Chips Mund hörte sich das so komisch an, dass Jonas vor Lachen ins Gras fiel. Nach einem kurzen Moment begann auch Chip zu lachen. Es war, als wäre man wieder ein kleines Kind, das sich vor Lachen im Gras wälzt und sich nicht darum schert, wer einem dabei zusieht.
    Dann wurde Jonas wieder ernst und setzte sich auf. Er sah die Straße entlang, doch zum Glück war niemand in der Nähe. Er knuffte Chip gegen den Arm.
    »So«, sagte er. »Du bist also in meine Schwester verknallt?«
    Chip hob die Schultern, was vielleicht Zustimmung bedeuten sollte oder »Das würde ich dir doch nicht erzählen« oder »Das weiß ich noch nicht«. Jonas war sich ohnehin nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Er und Chip waren noch keine richtig dicken Freunde, und wenn Chip in Katherine verknallt war, konnte das die Sache ziemlich durcheinanderbringen.
    Chip legte sich ins Gras und starrte zum Basketballkorb hinauf.
    »Fragst du dich auch manchmal, was noch alles passieren wird?«, sagte er. »Ich meine, ich will wirklich unbedingt in die Basketballmannschaft. Aber selbst wenn ich es in der Siebten und Achten schaffe, wartet hinterher die Highschool auf mich. Uah. Und dann kommt das College und das Erwachsensein . . . Das ist alles ziemlich beängstigend, findest du nicht?«
    »Du hast vergessen, deine Beerdigung einzuplanen«, sagte Jonas.
    »Was?«
    »Na ja. Wenn du dir heute schon den Kopf darüber zerbrechen willst, erwachsen zu sein, kannst du dich auch fragen, was sein wird, wenn du neunzig bist und stirbst«, sagte Jonas. Er selbst machte nie gerne Pläne. Seine Mutter fragte die Familie morgens beim Frühstück manchmal, was sie gern zu Abend essen würden. Für Jonas’ Geschmack war selbst das schon zu viel Planung.
    Chip machte den Mund auf, um etwas zu sagen, klappte ihn dann aber wieder zu und starrte zur Eingangstür von Jonas’ Elternhaus hinüber. Sie ging langsam auf. Dann streckte Katherine den Kopf heraus.
    »He, Jo-Nuss«, rief sie und verwendete den Spitznamen, mit dem sie ihn gern ärgerte. »Mom sagt, du sollst die Post holen.«
    Jonas überlegte, ob er das Postauto schon durch die Straße hatte fahren sehen. Vielleicht als er und Chip sich auf die Korbwürfe konzentriert hatten? Jedenfalls hoffte er, dass es nicht geschehen war, als sie sich gerade im Gras gewälzt und lächerlich gemacht hatten. Trotzdem sprang er folgsam auf, ging zum Briefkasten und holte einen kleinen Stapel Briefe und Werbeseiten heraus. Er brachte die Post zu Katherine.
    »Du kannst sie Mom doch sicher bringen?«, sagte er spöttisch. »Oder ist das zu viel Arbeit für Prinzessin Katherine?«
    Nach dem Gespräch mit Chip fiel es ihm ein bisschen schwer, ihr in die Augen zu sehen. Wenn er an den Namen Katherine dachte, sah er sie immer noch so vor sich, wie sie vor ein paar Jahren ausgesehen hatte: mit Pausbäckchen und den bescheuerten Rattenschwänzen. Jetzt, im sechsten Schuljahr, hatte sie sich irgendwie verändert. Sie war schlanker geworden, in die Höhe geschossen und fing an, auf ihr Äußeres zu achten. Ihr Haar war dichter und hatte einen Goldton angenommen, und sie verbrachte viel Zeit hinter der verschlossenen Tür ihres Zimmers, wo sie sich die Haare glättete oder zu Locken drehte oder sonst was trieb. Im Moment war sie sogar geschminkt: ein winziger brauner Streifen über den Augen, Schwarz auf den Lidern und ein Klecks Rot auf den Wangen.
    Komisch.
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