Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
nachgegeben werden; in Amsterdam gab es bestimmt noch unternehmungslustige Frauen.
    Auf dem Weg zum Ausgang kam er wieder durch den Saal mit den Zauberern und Zauberhexen, aber dort war es inzwischen nahezu leer. Je höher das Stimmungsbarometer gestiegen war, desto mehr war das Interesse für das Höhere geschwunden; die meisten waren gerade dabei, ihr übersinnliches Instrumentarium einzupacken. Nur am Stand eines Fräuleins in einem lila Pullover saß noch ein Mädchen, die Hand mit der Innenseite nach oben in der Hand des Fräuleins, wie eine Heilige, die ihr Stigma zeigt.
    Es war ein attraktives Mädchen. Sie war nicht älter als vielleicht neunzehn, das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit geheucheltem Interesse blieb er stehen und hörte zu, was die Chiromantin zu sagen hatte. Mit einem dünnen Filzstift zeichnete sie auf bedeutungsvolle Kapriolen der Handlinien Krümmungen, Kreuze und Kreise, was ihn an Markierungen auf astronomischen Aufnahmen erinnerte.
    Insgesamt gab das Muster Anlaß zu guten Hoffnungen, aber einige Verzweigungen der Lebenslinie deuteten offenbar dennoch auf eine ernsthafte Erkrankung um das vierzigste Lebensjahr herum hin; auch Gitter auf dem Sonnenhügel sollte man besser nicht haben. Das Mädchen schaute auf ihre Hand und nickte verstehend.
    »Ich finde das ziemlich unverschämt, was Sie da machen«, sagte er plötzlich – in erster Linie natürlich, um sich dem Mädchen anzubieten, aber er meinte es zugleich auch ernst.
    »Hoffentlich hält sie das alles für Unsinn, denn das ist es in der Tat, aber jetzt muß sie es mit sich herumtragen, diese Drohung mit der Krankheit, die Sie ausgesprochen haben. Und zwar zwanzig Jahre lang.«
    Die beiden Frauen sahen zu ihm auf: das Mädchen amüsiert, die Wünschelrutenfrau mit einem maroden Blick über ihre Halbmondbrille. Sie war in seinem Alter, vielleicht etwas älter; ihr üppiges dunkelbraunes Haar lag in merkwürdigen Wülsten über ihrem Kopf, als ob sich dort eine riesige Eidechse eingenistet hätte, ein Leguan. In ihrem Gesicht war etwas, das ihn plötzlich ergriff. Unter ihrem Pullover zeichneten sich ihre kleinen Brüste ab, dazwischen ein Anhänger, eine flache Hand aus Metall – und im selben Augenblick wußte er, daß er nicht mit ihrer Kundin ins Bett wollte, sondern mit ihr.
    »Eine Schande«, sagte er, während er sie weiterhin ansah.
    Vielleicht hatte das Mädchen den Sinneswechsel gesehen; sie stand auf, grüßte freundlich und ging weg.
    »Ich glaube, daß wir ein ernsthaftes Wörtchen miteinander zu reden haben«, sagte er streng.
    Als sie aufstand, um ihre Sachen einzupacken, zeigte sich, daß sie sehr zierlich war: mit ihrem animalischen Schopf reichte sie ihm nicht einmal bis zu den Schultern. Ohne ein Wort zog sie den Mantel an und ging hinaus. Er fragte sich, wie er dieses Schweigen brechen sollte, und folgte ihr zum Parkplatz. Als sie den Schlüssel in die Tür eines Kleinwagens gesteckt hatte, drehte sie sich plötzlich zu ihm um und machte eine einladende Geste. Er lachte.
    »Ich habe selbst so ein Ding, ich werde hinter dir herfahren.«
    In seinem dunkelgrünen Sportwagen mit dem weißen Segeltuchverdeck, der viel schneller fahren wollte, tuckerte er kurz darauf auf der Straße nach Den Haag hinter ihr her, aufgrund der Lage ständig mit einer halben Erektion.
    »Eine Wahrsagerin!« rief er auf der Höhe von Delft und hieb auf das Holzlenkrad ein. »Das fehlt gerade noch!« Er fühlte sich in seinem Element und begann zu singen, ein Lied von Mahler: Wenn mein Schatz Hochzeit macht , fröhliche Hochzeit macht … Tränen schossen ihm in die Augen. Melancholie, Geilheit, Musik, alles überwältigte ihn plötzlich, während er auf die roten Rückleuchten vor sich sah.
    »Ich lebe!« rief er. »Ich lebe!«
    Sie wohnte in einem phantasielosen Hochhaus, das man in einer Straße mit Arbeiterwohnungen aus dem neunzehnten Jahrhundert brutal aus dem Boden gestampft hatte. Als sie auf der Rückseite des Hauses über die Galerie gingen, schwieg sie noch immer. In einem kleinen, warmen Appartement zündete sie Kerzen und Räucherstäbchen an und reichte ihm eine Flasche Wein mit einem Etikett, das ihm wenig Vertrauen einflößte. Während er die Flasche zwischen die Knie nahm und den Stahl in den Korken trieb, füllte plötzlich Sitarmusik das Zimmer.
    »Wie sich’s gehört«, sagte er. »Ravi Shankar.«
    Sie stießen an, tranken und sahen sich an. Der Wein schmeckte ihm nicht, und er stellte sein Glas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher