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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels
Autoren: Harry Mulisch
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hielt sie hinter dem Rücken verschränkt, wo sie allmählich violett wurden vor Kälte, ohne daß er es bemerkte.
    Hier, wo er seine ganze Jugend verbracht hatte, kannte er jeden Stein, aber er ging ohne nostalgische Gefühle, sah sich nicht um und dachte auch nicht an den vergangenen Abend.
    Leicht vornübergebeugt, mit etwas mühsamen Schritten in plumpen, nie geputzten Schuhen ging er durch die verlassenen Straßen und hatte dabei ununterbrochen eine runde Tontafel vor Augen, mal die eine Seite, mal die andere.
    Es schien, als sei er plötzlich ein anderer Mensch. Er hielt die Zunge auf der linken Seite seines Mundes zwischen den Backenzähnen und biß leicht darauf, wie immer, wenn er nachdachte. Sein Gesicht hatte einen leicht schläfrigen Ausdruck angenommen, aber nicht vor Müdigkeit oder vom Alkohol, es war die Schläfrigkeit des Denkens. Denken ist nie Aktion, ist nie vorwärts und drauflos, wie die Leute meinen, die nicht wissen, was Denken ist; es funktioniert nicht wie ein sich durch Lianen schlagender Waldläufer, sondern eher wie jemand, der sich entspannt in ein warmes Bad gleiten läßt.
    Die Tontafel hatte die Größe eines Desserttellers. Beide Seiten zeigten ein Muster, das noch am ehesten Ähnlichkeit mit einer Hüpfb ahn hatte, wie sie Kinder mit Kreide auf die Straße malen: eine Spirale, die sich im Uhrzeigersinn von außen nach innen dreht und im Mittelpunkt endet. Es hatte auch Ähnlichkeit mit einem Labyrinth, aber genau das war es nicht; man konnte sich unmöglich darin verirren, es gab nur einen einzigen Weg, und dieser Weg führte zum Zentrum.
    Die Bahn war in Kästchen unterteilt, angefüllt mit primitiven Zeichen, zum Beispiel einem behelmten Kopf, einigen Menschen- und Tierfiguren im Profil, einem Beil, einer Art tragbarem Käfig und vielen anderen Abbildungen. Onno sah sich das Bilderrätsel, dessen 242 Zeichen und 45 Silben in den 61
    Kompartimenten er besser kannte als seinen eigenen Körper, genau an, es war auf seine Weise vielleicht doch ein Labyrinth – während vor seinem Auge immer wieder neue Zusammenhänge entstanden, verschwanden, verändert wieder auftauchten, sich mit anderen linguistischen Daten und Zeichen verknüpften, philistinischen, lykischen, semitischen …
    Es herrschte nun eine große Stille um ihn herum.

2
Ihre Begegnung
    Als Onno Quist sein Elternhaus verließ, hatte in einem anderen, wesentlich weniger noblen Viertel von Den Haag ein Mann gleichen Alters mit vier, fünf laut herausgeschrienen Stößen seinen Orgasmus.
    »Meine Güte!« sagte er schwer atmend und zugleich verwundert und anerkennend, als der Orgasmus verebbt war.
    »Ich danke Ihnen.«
    Er lag am Boden und streichelte mit geschlossenen Augen die Frau, die auf ihm zusammengesunken war wie ein halbleerer Luftballon, und auf irgendeine Weise stimmte etwas nicht. Er spürte ein Bein, wo sich eigentlich kein Bein befinden konnte, und ihr Kopf war an einem Platz, wo er eher einen Fuß vermutet hätte. Er streichelte über eine Wölbung, die vermutlich ein Brustansatz war, vielleicht aber auch der einer Pobacke, zog gelassen die Augenbrauen hoch, seufzte und schlummerte ein …
    Einige Stunden zuvor war er der Frau in Rotterdam begegnet. Studenten der Wirtschaftshochschule hatten dort einen »revolutionären Karneval« organisiert; er hatte die Ankündigung an einem Schwarzen Brett in Leiden gelesen, wo er arbeitete. Er wohnte in Amsterdam, aber weil er nach der Arbeit nichts zu tun hatte, war er später am Abend zu dem Fest gefahren. Laute Musik in geschmückten Sälen, überall wurde getanzt, sogar die Treppen waren voller Menschen.
    In einem improvisierten kubanischen Restaurant, »Moncada«, aß er ein Stück Fleisch, und in einer flämischen Bierkneipe, »In de Racebroek«, bestellte er sich einen Orangensaft. In einem Nebensaal war ein okkulter Markt eingerichtet worden: an auf Böcken gelegten Tischplatten boten junge Leute mit Tarotkarten, Horoskopen, Pendeln, Kristallkugeln und I-Ging-Gerät kostenlos ihre Dienste an. Im Gedränge suchte er nach Frauen, mit denen man etwas unternehmen konnte, aber alle waren in Begleitung – Dutzende Jungen hatten sich mit Baretten à la Che Guevara verkleidet – und amüsierten sich; die entspannte, völlig unerotische Atmosphäre ging ihm schon bald auf die Nerven. Der Mensch war nicht zu seinem Vergnügen auf der Welt, fand er, es mußte gefickt werden – und nach einer Stunde beschloß er, zum Auto zu gehen. Er war müde, aber auch dem durfte nicht
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