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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels
Autoren: Harry Mulisch
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dunklen Wintergarten auf der Rückseite erhob sich eine große Person aus einem Korbsessel. Mit einem Glas in der Hand überblickte sie die Dutzende Schemen.
    »Nein, Mutter!« rief der Mann laut und betonte jedes Wort: »Es hat nichts mit Toastern zu tun. Es hat begonnen.«
    »Was hat begonnen?«
    » Es !« Er rief es mit dem Kopf im Nacken, ekstatisch wie ein erleuchteter Mystiker.
    »Jetzt fängt er schon wieder damit an«, sagte eine Männerstimme. »Setz dich hin und hör auf zu trinken.«
    »Es!«
    »Ja, ja. Es. Es ist schon in Ordnung.«
    »Genau! Es ist in Ordnung. Es ist auch dunkel, und draußen friert es. Es wurde höchste Zeit, daß es endlich anfängt, aber jetzt ist es Gott sei Dank soweit. So sei es. Amen – auf daß auch die Christenhunde es verstehen.«
    »Onno, du bist unerträglich.«
    Der Mann wurde geradezu inspiriert vom Widerstand, den er hervorrief. Er wußte, daß er schauspielerte, aber er wurde von seinen eigenen Worten mitgerissen.
    »Hört mein Ohr da etwa die keineswegs wohlklingende Stimme meines ältesten Bruders? Des bigottesten unter den Kalvinisten? Was gibt es Schrecklicheres, als der älteste Bruder zu sein? Das werde ich den zusammengebissenen Zähnen jetzt entwischen lassen: einen ältesten Bruder zu haben! Vater, verbiete diesem losen Kerl den Mund!«
    »Ich weiß nicht, ob du es noch weißt«, sagte eine Frau im Dunkeln, »aber wir feiern hier Vaters Geburtstag. Er wird fünfundsiebzig, falls du es vergessen hast. Das hier war als Feier gedacht.«
    »Und das, das ist meine jüngste Schwester? The fair Ophelia.
    Ja, ich weiß es noch, ich weiß es noch. Ich bin dreiunddreißig – erinnert das vielleicht jemanden in dieser Gesellschaft aus Angebern und Eiferern an etwas? Ich weiß alles noch ganz genau, denn ich vergesse nie etwas. Ist das hier nicht schon das zweite Mal innerhalb einer Woche, daß wir Vaters Geburtstag feiern? Vater, wo sind Sie? Ich suche Sie, aber ich schaue nur durch einen Spiegel in einen düsteren Verstand. Sie, vorgestern am Kopf der Tafel, im Schloß Wittenburg: zur Rechten die Königin, zur Linken die Kronprinzessin; am anderen Ende, zehn Minuten zu Fuß entfernt, unsere arme Mutter, eingeklemmt zwischen Prinz und Premierminister; und dazwischen das gesamte Kabinett, sechsundachtzig Minister a. D. hundertachtundsechzigtausend Generale, Prälaten, Bankiers, Politiker und Industrielle, so weit das Auge reichte; und ihr hier, alles Paschas und Großwesire und angeheiratete Mogule und Satrapen. Hic sunt monstra. Wenn doch nur mein schrecklicher älterer Bruder nicht da wäre, Kommissar der Königin in dieser zurückgebliebenen Provinz, jetzt hab ich den Namen schon wieder vergessen.«
    »Jetzt habe ich aber genug, ich werde ihm gleich ein paar in die Fresse hauen!«
    »Beherrsch dich, Diederic. Was bist du doch für ein ekelhafter Kerl, Onno. Du hast dich doch eben ganz kleinlaut mit Freule Bob unterhalten in deinem Smoking.«
    »Ach Gott, Freule Bob, dieser Schatz. Ich habe sie sexuell aufgeklärt. Es war alles absolut neu für sie.«
    Onno genoß es. Es war vor allem seine eigene Generation, die sich gegen ihn wandte. Die vorige sagte nicht viel; die nächste, die noch aufs Gymnasium ging, amüsierte sich voller Bewunderung. So sollte man sein. So sollte man sich trauen zu sein.
    »Ich kann nirgendwo Kerzen finden, gnädige Frau.«
    Ein Junge kam herein mit einer Taschenlampe, die noch weniger hergab als eine Kerze.
    »Es sind keine Sicherungen mehr da.«
    Er stellte die Taschenlampe auf den Tisch, wodurch sich die Gesichtszüge einiger älterer Damen, die ihren Likör tranken und runde, braune Mandelkekse knabberten, in die transsylvanischer Hexen verwandelten. Aber die Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, so daß es den Anschein hatte, als würde es doch langsam heller. Onno stand noch immer in der Pose eines Feldherrn da, der das Schlachtfeld überblickt.
    »Geh schnell nach nebenan, Coba«, sagte seine Mutter, »zu Frau Van Pallandt. Vielleicht kann sie uns helfen. Aber nur, wenn noch Licht brennt.«
    »Ja, gnädige Frau.«
    »Der Geburtstag des Herrn Jesus ist noch keine zwei Monate her«, rief Onno, »und schon ist in dieser antirevolutionären Bastion keine Kerze mehr zu finden!«
    »Ist jetzt vielleicht bald Schluß mit diesem himmelschreienden Gequatsche?« fragte der Mann seiner ältesten Schwester. »Hau doch ab, Mann. Geh nach Amsterdam, wo du hingehörst.«
    »Ja, der Himmel sei gepriesen, daß ich in Amsterdam wohne und
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