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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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gleichmäßig zu verteilen. Sie wollte nicht, dass von den Apfelschalen, die ihre Mutter ihnen vor zwei Tagen geschält und dann hierhergebracht und verstreut hatte, noch etwas zu sehen war.
    Am Morgen war sie früh aufgewacht und gleich in das Zimmer der Mutter gegangen. Die Bettdecke lag dort wie am Tag zuvor, noch immer aufgeworfen, ein violetter Haufen. In der Küche wärmte sie Milch in einem großen Topf. Für Zwieback und viel Kakao, viel mehr Kakao, als ihre Mutter es ihnen erlaubt hätte. Mit dem Fahrrad fuhren sie und Lilja zur Schule.
    Am Ende der vierten Stunde marschierte die ganze Klasse zur Schwimmhalle im Helgesvej. Während die anderen Kinder versuchen mussten, vom einen Rand des Beckens zum anderen zu tauchen, saß sie in ihrer Jeans und dem grünen T-Shirt an der Wand der Halle auf einer Steinbank und sah ihnen zu. Ihren Badeanzug hatte sie mal wieder zuhause vergessen. Keines der Mädchen aus ihrer Klasse schaffte die volle Strecke, alle stiegen sie prustend und mit roten Augen auf, bevor sie an der Wand anschlagen konnten. Sie hätte es besser gemacht.
    Sie war die beste Taucherin der Klasse. Sie war auch die beste Schwimmerin. Sie hatte ihr Frosch-Abzeichen schon in Ljusne bekommen. Für einen Sprung vom Einmeterbrett und fünfundzwanzig Meter Brustschwimmen. Dafür, dass sie sich so bemüht hatte, einen roten Plastikring vom lehmigen Grund des Gussi-Sees aufzufischen. Der Ring ist mit Zirkussand gefüllt, hatte der Bademeister ihnen erzählt, voll mit Erinnerungen und mit Schicksalen und mit Träumen, die eines Tages wahr werden. Extra schwer. Sie verstand nicht, was der Mann damit meinte. Aber sie hatte sich beim Tauchen besonders angestrengt.
    Als der Lehrer die Klasse mit einer Trillerpfeife aus dem Wasser scheuchte, verließ sie die Schwimmhalle und ging allein zur Schule zurück. Lilja stand wartend vor ihrem Pavillon. Zu ihren Füßen lag ein Haufen kleiner grüner Beeren, die sie von den Zweigen eines Busches abgerupft hatte.
    Als sie auf ihren Rädern nach Hause fuhren, hielt sie mit der einen Hand den Lenker, mit der anderen den Esel, den Lilja im Werkunterricht aus Pappmaché gebastelt hatte. Sein eines Vorderbein war eingerissen und schlenkerte im Fahrtwind.
    Noch immer war ihre Mutter nicht nach Hause gekommen. Hinter dem Ofen lag stumpf der Kohlenstaub in der Ecke. Sein Glitzern war verlöscht. Zwischen die Kissen auf dem Korbstuhl war eine rote Strumpfhose gerutscht. Sie rührte sie nicht an. Sie sah unter dem Bett nach. Dort lag der große Koffer ihrer Mutter und, in einer Kugel aus Staub, ein toter schwarzer Käfer. Sie zog den Koffer hervor und öffnete ihn. Bettwäsche und Winterkleider waren darin. Briefe, die alt und wichtig aussahen und mit Paketschnüren verknotet waren. Ein Glas mit Tinte. Sie schüttelte es und hielt es gegen das Licht des Fensters. Die Tinte blieb schwarz. Es gibt so viele Farben wie Sterne, und im Schwarz sind sie alle enthalten, hatte ihre Mutter einmal erzählt. Aber man sieht sie nicht. Man kann noch so lange nach ihnen gucken. Wenn es sein muss, eine Ewigkeit.
    Plötzlich stand Lilja hinter ihr. Ich habe Hunger, sagte sie.
    Sie gingen zur Speisekammer und sahen in der Schokoladenkiste nach. Sie war leer. Als sie den Brotkorb aufschlug, flatterte ihr eine Motte entgegen. Sie nahm Lilja bei der Hand und ging mit ihr zum Kaufmannsladen. Von dem Geld, das sie aus ihrer Zigarrenkiste genommen hatte, kaufte sie ein helles Brot und Karotten und für jede von ihnen ein Meloneneis. Es war heiß geworden. Vor dem Fahrradladen zog Lilja sich aus und hüpfte nackt über die ausrangierte Autositzbank, auf der in Sommernächten immer die Hunde schliefen.
    Der Bauch tat ihr weh. Sie ging zurück ins Haus und legte sich in der Küche auf die Schlafbank. Am Fußende stapelten sich die Horoskope, die ihre Mutter für alle möglichen Leute errechnete. Es war eine sehr komplizierte Sache, aber es brachte einige Kronen ein. Sie suchte, ob in dem Stapel ein Brief von ihrer Mutter steckte. Eine kurze Nachricht wenigstens, von einem Luftzug in diesen Papierhaufen gefegt.
    Sie hob den Kassettenrekorder von der Truhe mit den Tischdecken und legte eine Kassette ein. Karlsson vom Dach. Sie wusste genau, an welchen Stellen die Kassette eierte. Dann sang sie leise mit, obwohl sie das Lied nicht mochte und auch den kleinen, dicken und listigen Mann nicht. Karlsson, Karlsson, ich bin, das müsst ihr glauben, der allerbeste Karlsson auf der Welt.
    Noch nie war ihre Mutter nicht da
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