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Die Ehre der Am'churi (German Edition)

Die Ehre der Am'churi (German Edition)

Titel: Die Ehre der Am'churi (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
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Oberkörper, ignorierte das klebrige Erbrochene und umfasste mit der linken Hand die Fußfessel. Auf diese Weise stützte er Ni‘yo ab, verhinderte, dass er sich durch einen unkontrollierten Ruck die Wirbelsäule brechen konnte. Mit der Rechten durchtrennte er das Tuch, das bereits tief in die Kehle des Jungen einschnitt. Ganz langsam senkte er Ni’yos Kopf, drehte ihn dabei auf die Seite, ließ gleichzeitig vorsichtig die Beine nach unten, bis der Junge schließlich ausgestreckt auf den Steinfliesen lag. Er hustete und würgte, schnappte dazwischen hilflos nach Luft wie ein Ertrinkender. Aufgewühlt legte Jivvin eine Hand auf Ni’yos Rücken, um die Armfesseln zu durchtrennen – und fuhr zurück. Gerade noch konnte er einen Aufschrei unterdrücken: Nadeln steckten in seinen Fingern und der Handfläche, sicherlich zwanzig Stück. Feine, extrem spitze Holznadeln. Innerlich fluchend zog er sie heraus, sprang dann auf, versuchte, sich in dem fremden, düsteren Raum zu orientieren, bis er auf dem Tisch unter dem Fenster eine Kerze fand sowie eine Schale mit Glühsteinen und Stäbchen. Rasch schaffte er sich damit das dringend benötigte Licht und eilte zurück an Ni’yos Seite. Der Junge hatte sich nicht bewegt, noch immer kämpfte er röchelnd darum, wieder frei atmen zu können. Jivvin achtete nicht darauf, er starrte wie gebannt auf das, was sich im Kerzenlicht offenbarte: Ni’yos gesamter Rücken war mit unzähligen feinen Nadeln gespickt, bis hinab zum Bund der Stoffhose. Jivvin hoffte einfach, dass Pérenn und Kamur diese Grenze gewahrt hatten und betrachtete die bloßen Arme des Jungen. Sie waren rot geschwollen, als wäre eine Armee von Moskitos über sie hergefallen. Er brauchte Ni’yo nicht umzudrehen, um zu wissen, wie Brust und Bauch aussehen würden. Was hatte es nur mit diesen Nadeln auf sich? Sie waren scharf geschliffen, sicherlich das Werk von Kamur, der geschickte Finger und sehr viel Geduld besaß. Jivvin sah eine einzelne Nadel auf dem Boden liegen und hob sie auf. Die Spitze schimmerte feucht, aber nicht von Blut.
    Auch er bereits ahnte, was auf ihn zukommen würde, musste er es einfach genau wissen. Er rollte sich den linken Ärmel hoch und stach beherzt zu.
    Die Wirkung folgte augenblicklich, und so heftig, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb, obwohl er sich doch innerlich gewappnet hatte: entsetzliches Brennen, kribbelnder Schmerz, der sich schnell um die Einstichstelle herum ausbreitete. Er riss die Nadel heraus, krümmte sich keuchend über seinen Arm, der in Flammen zu stehen schien, presste ihn an sich, bis die Qual endlich ganz langsam verebbte. Eine einzige Nadel reichte – wie konnten diese Bastarde hunderte davon in ein lebendiges Wesen stecken? Jivvin hätte nie geglaubt, dass er irgendjemanden mehr hassen könnte als Ni’yo, aber im Moment hätte er Pérenn und Kamur am liebsten das Herz aus Leib gerissen und es ihnen in den Mund gestopft!
    Sobald er sich gefangen hatte, zog er die fürchterlichen Nadeln aus Ni’yos Rücken, schlich sich dann in den Waschraum und holte zwei große Schalen voll Wasser, sowie mehrere Tücher. Er musste das nicht tun, das war ihm klar. Ni’yo würde diese Nacht jetzt mit Sicherheit überleben. Ein wenig Sorge bereitete ihm der Gedanke, was Kamur tun würde, wenn er den Jungen von seinen Fesseln befreit vorfand, aber das war eigentlich schon nicht mehr seine Angelegenheit. Während er langsam den Boden wischte, die beiden Fenster weit aufstieß, um frische Luft hereinzulassen, dachte Jivvin intensiv darüber nach, warum er sich diese Mühe machte. Als er mit dem Raum fertig war, kniete er sich unschlüssig neben Ni’yo, betrachtete die erbärmlich zitternde, krampfende, nach Luft ringende Gestalt. Wie dünn er war! Alle Knochen staken hervor, obwohl die Haut so angeschwollen war. Wenn er Pérenn richtig verstanden hatte, war dies nicht der erste Angriff. Kein Wunder also, das Ni’yo so dürr aussah, wahrscheinlich aß und trank er nur noch, um sich am Leben zu halten, wenn er ständig damit rechnen musste, vergiftet zu werden. Verwunderlich war eher, dass niemand bemerkt hatte, was vor sich ging. Die Wunden konnte man vielleicht unter weiten Gewändern verstecken, aber wie viel Kraft gehörte dazu, die Schmerzen nicht zu zeigen? Die Erschöpfung nach durchwachter, von Folter und Angst beherrschter Nacht zu verbergen? Sich nicht anmerken zu lassen, dass man an einem gedeckten Tisch verhungern musste?
    Warum hatte er selbst, Jivvin, nichts
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