Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Autoren: Dieter Paul Rudolph
Vom Netzwerk:
hatte er düster gekippt, mit einem Streichholz seine Zähne nach Resten der verzehrten Wurstbrote durchmustert, von der Wirtin Helga wort- und lieblos bedient. Jetzt kramte er nach dem Geldbeutel. Ich tat es ihm nach, schüttete generös den Inhalt meiner Börse auf den Tisch, lustig schepperte das Gemünz und weckte Madame Eierlikör. „Geh heim, Irmi“, riet der Glatzkopf, „hier findest keinen mehr, der dir das Karnickel macht.“ Ich grinste ob der naheliegenden Assoziation, der Glatzkopf nickte mit demselben in meine Richtung. Wir waren soeben Freunde fürs Leben geworden.
    Ich trat ins Freie, in den Frost, in den lebhaften Wind, die Welt war eine gigantische Waschmaschine für Schneeflocken, Autos und Menschen, bei Sonja Weber brannte noch Licht. Eine Zigarette wurde gedreht, was nicht einfach war, denn nach fünf Glühwein drehte sich auch einiges um mich. Schwankend lief ich auf und ab, inhalierte den Rauch, exhalierte so manch dunklen Gedanken an Georg Weber, der vielleicht wirklich schon tot war, und zwischendurch betrachtete ich die Profile der Autoreifen. Winterreifenpflicht. Statt Wehrpflicht, nahm ich an.
    Ein Dackel zog sein widerspenstiges Herrchen übers Trottoir, stoppte an meinem linken Bein und überlegte, das seinige an diesem mobilen Baum zu heben. „Pfui“, machte Herrchen, „Pfui“ machte ich, „fuck you“, dachte der Dackel. „Wilfried ist durch den Schnee irritiert“, erklärte der Mann, „und was machen Sie da?“ Ich? Ja, genau, was machte ich da? Ich sah mir Reifenprofile an und wartete darauf, Lothar möge die Kneipe verlassen, auf dass ich ihm folgen könne. Keine Ahnung, zu was das gut sein sollte.
    „Ich sehe doch, dass Sie die Reifenprofile kontrollieren. Sind Sie von der Stadt? Geben Sie Knöllchen? Gut so!“
    Wilfried hatte es sich inzwischen anders überlegt und fand diesen behosten Baum so gar nicht mehr verlockend. „Nein“, sagte ich, „ich kontrolliere die Schuhprofile der Passanten, denn wie Sie sicherlich wissen, werden in Paragraph 17b Absatz 3 des Reifenprofilermächtigungsgesetzes auch Fußgänger dazu verpflichtet, witterungsadäquates Schuhwerk zu tragen.“
    Das Wort „witterungsadäquat“ war dem Herrchen Ausweis meiner offiziellen Stellung genug. Unaufgefordert hob er die Füße und streckte mir seine Schuhprofile entgegen, sie waren tadellos.
    „Und der Dackel?“ fragte ich. Herrchen war irritiert. „Ich zahle Hundesteuer!“ argumentierte er schwach, „Autofahrer zahlen KFZ-Steuer und müssen trotzdem...“ argumentierte ich stark und gnadenlos zurück. „Das ist doch...“ Herrchen hob an zur allgemeinen Entrüstung, gleich würde er „Fass!“ sagen und Wilfried sich wünschen, niemals als Dackel geboren zu sein. „Ich drück noch mal ein Auge zu“, sagte ich und drehte mich um. Denn die Tür der „Bauernschenke“ hatte einen Laut von sich gegeben und tatsächlich trat Lothar heraus, wandte sich nach rechts und schritt stadteinwärts.
     
     
    16
    Ich hielt mich sichere 20 Meter hinter Lothar, der den Weg in die Fußgängerzone eingeschlagen hatte und keine Anstalten machte, sich nach möglichen Verfolgern umzuschauen. Zentimeterhoch lag der Schnee auf den Bürgersteigen, meine Halbschuhe versanken in Nässe und eisiger Kälte, wacker kämpften fünf Glas Glühwein, die sich in meinen Füßen abgelagert zu haben schienen, gegen die Unbilden der Witterung, doch mit jedem Schritt verloren sie an Terrain. Der Frost umzingelte auch meinen Kopf und schickte erste Vorauskommandos durch sämtliche Öffnungen, die Avantgarde kämpfte sich körperabwärts und würde sich in wenigen Minuten auf Höhe meiner Hüften mit der Soldateska von der Fußfront vereinen. Diesen Zweifrontenkrieg konnte ich nur verlieren, aber es tröstete mich, dass es Lothar nicht besser ergehen würde.
    In der Fußgängerzone herrschte das, was man samstäglichen Spätabendbetrieb nannte, also ziemlich tote Hose. Zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund waren an einer Laterne hochgeklettert und gerade dabei, eine über die Straße gespannte weihnachtliche Lichterkette aus der Verankerung zu lösen, angespornt von vier Personen ihresgleichen, die sich ob dieser gelungenen Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft aus vollen Kehlen freuten. Ich war gerührt. Lothar ging achtlos an diesem gelungenen Beispiel von Teilhabe an christlicher Weihnacht vorbei, selbst aus dieser Entfernung war mir, als hörte ich ihn grübeln. Er hatte das Kinn auf die Brust gesetzt und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher