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Die dunklen Wasser von Arcachon

Die dunklen Wasser von Arcachon

Titel: Die dunklen Wasser von Arcachon
Autoren: David Tanner
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sagte damals, mit seiner schlichten Überzeugungskraft, nach einem Jahr dunkler Trauer in der Normandie, dass das Leben und das Sterben nun einmal so sei, wie es sei, dass aber niemand besser darüber schreiben könne als er. »Dein Talent«, sagte der Vater, »ist dein Auftrag.«
    In Kirchners Erinnerung war seine Mutter eine schöne, stattliche Frau, die stets das Beste aus dem Leben zu machen versuchte, die aber auch von inneren Widersprüchen geplagt war.
    Sie war das Kind eines deutschen Soldaten, der sich in den Kriegswirren am Beginn der 1940er-Jahre in Caen in eine junge französische Lehrerin verliebt hatte. Und sie hatte seine Gefühle erwidert.
    Ohne je genau sagen zu können, warum, hatte die Mutter unter dieser Herkunft gelitten. Sie hatte sich immer gewünscht, einfach ein normales Mädchen zu sein; die unmögliche Liebe aus fernen Kriegszeiten lastete dunkel auf ihr.
    Wenn in der Region, den ganzen Ärmelkanal entlang, jedes Jahr die Feierlichkeiten zur Erinnerung an den D-Day stattgefunden hatten, hatte sie sich im Haus verkrochen und war kaum je vor die Tür gegangen.
    Kirchner selbst hatte diese Herkunft eher als Bereicherung empfunden. Schon als Kind hatte er sich in seiner Fantasie abenteuerlich den Moment ausgemalt, in dem der Großvater im Kampf mit den über den Atlantik anrückenden alliierten Brigaden gefallen war, getroffen, nach allem, was bekannt war, von der Kugel eines Fallschirmjägers der amerikanischen 101. Airborne Division. Irgendwo hinter der Steilküste landeinwärts an der Pointe du Hoc war das geschehen, und immer, wenn Kirchner dort spazieren ging, war ihm der fremde Großvater präsent.
    Die Frau, die der Soldat aus Oberbayern geliebt hatte, die ihn geliebt hatte, Kirchners Großmutter Josephine, hatte bis zu ihrem Tod ein mehr als zwiespältiges Verhältnis zur Befreiung Frankreichs von den Nazis gehabt. Sie erzählte oft Geschichten darüber, wie die Franzosen gemeinsam mit den Deutschen vor den anrückenden Amerikanern, Kanadiern und Briten geflohen waren, und nur, weil ein vernünftiger Bürgermeister eingeschritten war, war sie selbst dem Schicksal entgangen, mit kahl geschorenem Kopf und einem Hurenschild um den Hals durch ihr Dorf getrieben zu werden.
    Sie, die Großmutter, hatte jedenfalls dafür gesorgt, dass ihr einziger Enkel Antoine solide Deutsch lernte und dass er die Schwarz-Weiß-Bilder, die sich alle Welt für lange Zeit von Deutschland und den Deutschen gemacht hatte, nicht einfach für bare Münze nahm.
    Die besondere Familiengeschichte vertiefte Kirchners Bindung zur Normandie, an das alte Steinhaus an der Küste und das Land drum herum, mit seinem Vater mittendrin. Sie waren seine Heimat, gewoben aus Liebe und Schmerz, und wann immer er aus fernen Ländern nach Frankreich zurückkehrte, wenn er wieder landete in Paris, in Orly oder draußen in Roissy, drängte es ihn so schnell wie möglich auf die Autobahn A 13 Richtung Kanalküste, wo ihm Filou aufgeregt entgegensprang, wo seine Küche auf ihn wartete und wo ihn der Vater mit Tränen in den Augen bei jeder Rückkehr in die Arme schloss.
    Kirchner ging jetzt auf die fünfzig zu. Der Zustand der Welt war so gebrechlich wie stets, aber er hatte sich beruflich eine Position erarbeitet, die ihm die Auswahl seiner Stoffe erlaubte. Selten wurde er, wie an diesem Morgen, von Henri Pelleton, dem allmächtigen Le-Monde -Chef, einfach losgeschickt. Sein Alltag sah jetzt in der Regel anders aus, ruhiger als früher, weniger gehetzt. Jüngere Kollegen eilten zu den Schauplätzen, an denen geschossen und gestorben wurde, Kirchner sprang selbst nur noch ein, wenn der Pulverdampf verzogen war und der größere Zusammenhang einer Geschichte sichtbar wurde. Zwischen seinen Einsätzen draußen in der Welt beschränkte er sich auf Europa und arbeitete seit einer Weile wieder häufiger in Frankreich selbst, und diese Entwicklung war ihm nur recht. Seit einiger Zeit verspürte er manchmal Anflüge großer Müdigkeit, nach langen Flügen oder während aufwändiger Recherchen. Das ist das Alter , sagte er sich.
    Seit seinem vierzigsten Geburtstag wusste er, dass er nicht mehr fünfundzwanzig war. Aber sooft er sich auch selbst überprüfte, und das war ihm das Wichtigste, kam er doch immer wieder zu dem Schluss, dass er wach geblieben und vor allem neugierig auf die Welt und die Menschen war, was er als den wesentlichen Charakterzug eines guten Reporters ansah.
    Darüber und über viele andere Dinge redete er neuerdings mit
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