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Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman

Titel: Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Autoren: Anne Perry , K. Schatzhauser
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zwischen ihr und einem wirklichen Eunuchen erkennen.
    Zu Mittag aßen sie in einer Schenke frisch gefangene Meeräsche und Weißbrot. Bei dieser Gelegenheit erkundigte sich Anna nach einer billigeren Unterkunft.
    »Geht ein Stück weiter westwärts«, riet ihnen ein Tischgenosse, ein grauhaariger Mann in einem abgetragenen Kittel, der ihm gerade bis zu den Knien reichte. Seine Beine hatte er zum Schutz gegen die Kälte so mit Stoffstreifen
umwickelt, dass sie ihn bei der Arbeit nicht behinderten. »Je weiter draußen, desto billiger. Ihr seid hier fremd?«
    Es gab keinen Grund, das zu bestreiten. »Aus Nikaia«, teilte ihm Anna mit.
    »Ich komme aus Sestos«, sagte er mit einem Lächeln, bei dem eine Zahnlücke sichtbar wurde. »Aber früher oder später landen alle hier.«
    Anna dankte ihm für die Auskunft, und am nächsten Tag mieteten sie einen Esel, der ihr Gepäck zu einem weniger teuren Gasthof am westlichen Rand der Stadt nahe der Mauer brachte, unweit des St. Charisios-Tores.
    In jener Nacht lag sie auf ihrem Lager und lauschte auf die unvertrauten Geräusche der Stadt Konstantinopel um sie herum. Von klein auf hatten ihr Eltern und Großeltern Geschichten über das Herz des byzantinischen Reiches erzählt, doch jetzt, da sie dort war, kam ihr alles so sonderbar vor, dass es sich kaum erfassen ließ.
    Natürlich würde sie nichts erreichen, wenn sie in ihrer Unterkunft blieb, und so würde sie sich, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, gleich am nächsten Morgen aufmachen müssen, um ein Haus zu suchen, in dem sie ihre Praxis einrichten konnte.
    Trotz ihrer Müdigkeit wollte der Schlaf nicht kommen, und sie fürchtete, in ihren von fremden Gesichtern erfüllten Träumen unterzugehen.
    Aus den Berichten des Vaters wusste sie, dass die Stadt an drei Seiten von Wasser umgeben war. Die Hauptstraße mit Namen Mese, hatte er ihr erklärt, führte ostwärts ans Meer, gabelte sich nach Westen hin und lief auf zwei Stadttore zu. An ihr lagen alle bedeutenden Bauwerke: die Hagia Sophia, das Konstantins-Forum, das Hippodrom, den alten Palast der byzantinischen Kaiser und außerdem selbstverständlich
eine Unzahl von Geschäften mit ihrem verlockenden Angebot an herrlichen Handwerkserzeugnissen, Seidenstoffen, Gewürzen und Edelsteinen.
    In der Kühle des frühen Morgens brachen sie auf und schritten in dem Gassengewirr, das die ganze Stadt vom ruhigen Wasser des Goldenen Horns im Norden bis zum Marmarameer im Süden durchzog, rasch aus. An buchstäblich jeder Straßenecke drängten sich Menschen vor den Bäckereien. Mehrere Male mussten sie stehen bleiben und beiseitetreten, um hoch mit Obst und Gemüse beladene Eselskarren vorbeizulassen, die zum Markt strebten.
    Gerade als sie die ungeheuer belebte breite Hauptstraße Mese erreichten, schwankte ein Kamel vorüber. Ihm folgte ein Mann, den das Gewicht eines Baumwollballens fast zu Boden drückte. Außer den einheimischen griechischen Byzantinern sah man Moslems mit Turbanen, Bulgaren mit kurzgeschorenem Haar, dunkelhäutige Ägypter, blauäugige Nordländer und Mongolen mit hohen Wangenknochen. Die Größe der Stadt, das pralle Leben, die grellen Farben von Kleidungsstücken und Sonnensegeln vor den Geschäften, Lila und Scharlachrot, Blau und Gold, Aquamarin, Weinrot und Rosa, erfüllten Anna mit ängstlicher Scheu. Ob sich all diese Menschen hier ebenso fremd vorkamen wie sie?
    Sie wusste nicht recht, was sie zuerst tun sollte. Auf jeden Fall musste sie Erkundigungen einziehen und möglichst viel über die Wohnbezirke in Erfahrung bringen, die für die Suche nach einem Haus infrage kamen.
    »Die Stadt ist so groß, dass man ohne Plan überhaupt nicht weiß, wo man ist«, sagte Leo mit gerunzelter Stirn.
    » Wir müssen unbedingt ein gutes Wohnviertel finden«, fügte Simonis hinzu. Auch wenn sie wahrscheinlich voll
Sehnsucht an das Haus dachte, das sie in Nikaia verlassen hatten, war ihr Wunsch herzukommen beinahe ebenso stark gewesen wie der Annas. Deren Zwillingsbruder Ioustinianos, den Anna hier suchen wollte, war schon immer ihr Augenstern gewesen, und als er Nikaia verlassen hatte, um nach Konstantinopel zu gehen, hatte das Simonis tief bekümmert. Als sein letzter verzweifelter Brief gekommen war, in dem er der Schwester über seine Verbannung berichtete, hatte Simonis sogleich darauf bestanden, dass man ihren Liebling unbedingt und um jeden Preis retten müsse. Leo hingegen hatte seinen kühlen Kopf bewahrt und nicht nur darauf bestanden, dass man zuerst
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