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Die dunkle Treppe

Die dunkle Treppe

Titel: Die dunkle Treppe
Autoren: Helen Fitzgerald
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drauflos.
    »Schau dir das an«, sagte sie und zeigte mir ein Foto von letzter Nacht, das sie gerade heruntergeladen hatte. Ich tanzte wild mit Francesco und strahlte von einem Ohr zum anderen. Etwa zehn andere Leute tanzten auch. Nur Pete, der Muskelmann aus Adelaide, tanzte nicht. Er saß da und schaute mich an.
    Ich leitete das Foto an Papa und Ursula weiter und schrieb als Betreff: »BEWEIS FÜR GLÜCKLICHE VERFASSUNG«.
    Die Tür zu Hamishs Raum – ein Einzelzimmer direkt neben dem Café – war abgeschlossen. Er hatte sich wahrscheinlich aufs Ohr gelegt, und weil ich ihn nicht nerven wollte, ging ich direkt auf mein Zimmer.
    Kaum dass ich die Tür öffnete, sah ich, dass etwas nicht stimmte: Mein Bett war zerwühlt, und ich wusste genau, dass ich es gemacht hatte, ehe ich auf die Party gegangen war. Ich warf einen Blick auf das Regal neben dem Bett und sah, dass meine Umhängetasche verschwunden war. Verzweifelt durchsuchte ich das gesamte Zimmer, aber sie war nicht da. Scheiße.
    Ist ja keine große Sache, dachte ich. Einen neuen Reisepass konnte ich leicht beantragen. Ich wollte sowieso nirgendwohin, also hatte es damit keine Eile. Da ich zwei Übernachtungen im Hostel vorab bezahlt hatte, waren in der Tasche nur sechzig Pfund gewesen, und ich war zuversichtlich, dass Hamish oder Francesco mir unter die Arme greifen würden. All diese aufmunternden Gedanken gingen mir durch den Kopf, als Fliss das Zimmer betrat.
    »Hat er es mit dir in einem Schaufenster getrieben?«
    »Wer?«
    Fliss verstummte und starrte mich einige Sekunden verständnislos an. »Soll ich dir ein Oberteil leihen?«, fragte sie schließlich.
    »Oh ja, bitte! Ich rieche wie ein Hundehaufen. Ich wollte gerade in einen Secondhand-Laden gehen, aber meine Tasche ist verschwunden.«
    Die nächste Stunde war eine Lektion über das Leben im Hostel. Fliss war Expertin, und sie erläuterte geltendes Recht wie folgt:
    Cider (kein Lager), »E« (kein Kokain), Selbstgedrehte (keine fertig gekauften), Marihuana (kein Haschisch), Kwiksave (nicht Sainsbury’s), zu Fuß (nicht mit der U-Bahn), SMS (keine Anrufe), Hosentaschen (und sonst keine), Hausbesetzungen (keine Hostels).
    Seit der Grundschule hatte ich keine beste Freundin mehr gehabt. Damals war ich der Einladung von Jennifer Simmons gefolgt, nach der Schule bei ihr zu Hause zu spielen. Das war an meinem allerersten Schultag gewesen, und ich hatte mich so erwachsen gefühlt, dass ich ohne Zögern zugesagt hatte. Dann war ich vom Spielplatz gerannt, ehe meine Mutter mich finden konnte. Händchenhaltend waren Jennifer und ich zu ihrem Elternhaus gleich um die Ecke gehüpft.
    »Jennifer, du gehst auf dein Zimmer!«, hatte ihre Mutter gesagt, als wir auf die Veranda gewackelt kamen.
    »Kennst du den Weg zu dir nach Hause?«, hatte sie mich gefragt.
    Ich erinnere mich nicht daran, dass sie meine Antwort abgewartet hätte, ehe sie mir die Tür vor der Nase zuschlug. Natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich nach Hause kommen sollte. Ich war erst fünf und nie weiter als bis zur Schinkenfabrik gegangen, und so streunte ich durch Kilburn und wunderte mich, wie groß alles war.
    Tatsächlich, alles war groß. Die Bäume, der weite Himmel, die roten Häuser, das Pferd … Es war Mandy, eines von Mr Todds Pferden. Mr Todd war ein Überbleibsel aus den Zeiten der Viehtreiber, die drüben beim alten Bahnhof im Freien geschlafen hatten. Er war ein Teil des Suchtrupps, den meine neunjährige Schwester zusammengetrommelt hatte:
    »Mama, du hältst die Stellung am Telefon. Wenn die Polizei sich in den nächsten zehn Minuten nicht meldet, rufst du dort an«, hatte Ursula in ihrem Kontrollzentrum (der Küche) angeordnet. »Papa, du übernimmst die Straßen rechts von der Hauptstraße … Mr O’Hair, Sie übernehmen die auf der linken Seite … Toddy, du kümmerst dich um die Gegend rund um die Schule … Ich rufe die anderen Mütter an …«
    Wie üblich hatte ihr Plan funktioniert. Binnen einer Stunde hatte Toddy mich gefunden, auf Mandy gesetzt und nach Hause begleitet, als wäre ich eine Märchenprinzessin.
    Danach war ich Jennifer Simmons aus dem Weg gegangen, oder sie war mir aus dem Weg gegangen, und seitdem hatte ich nie wieder eine Lieblingsfreundin gehabt, deren Gegenwart ich so sehr hätte genießen können wie die von Fliss. Sie war einfach hinreißend mit ihren perfekten Silikonmöpsen, die sie mir so einladend hinhielt, als wären es zwei schnucklige Hundewelpen.
    »Fühl mal!«,
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