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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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schüttelte den Kopf. »Tut mir den Gefallen und geht zusammen essen, ja? Oder nein, besser – springt miteinander in die Federn, aber schleunigst. Dann ist wenigstens Ruhe. Und jetzt würde ich mich gerne wieder dem Fall widmen, wenn ihr nichts dagegen habt.«
    Mirella funkelte mich wütend an, dann drehte sie sich dem Rechtsmediziner zu. »Ich bitte darum. Es gibt Wichtigeres als die Befindlichkeiten meines überspannten Exmannes.«
    Ich hatte einen bissigen Kommentar auf der Zunge, doch ich schluckte ihn hinunter. Es brachte nichts. Nicht jetzt. »Gut, dann erklär doch bitte dem emotional verwirrten Vollidioten neben dir, was es mit dieser Leiche auf sich hat«, sagte ich stattdessen betont liebenswürdig.
    Mirella verzog keine Miene. Sie tippte auf das Röntgenbild. »Hier, siehst du? Kavernen in beiden Lungenflügeln. Das sind Höhlen im Lungengewebe, die aufgrund von entzündlichen Einschmelzungen im Rahmen eines jahrelangen Verlaufs der TBC entstehen können.« Sie wandte sich an Hades. »Solche Kavernen habe ich allerdings noch nie gesehen. Sie sind nur noch als leichte Umrisse zu erkennen, so als hätte sich das Gewebe wieder erholt und die Löcher hätten sich geschlossen. Ein Fehler im Röntgenbild?«
    Hades lächelte sanft. »Mitnichten, Schönste. Die Kollegen haben die Leiche so oft geröntgt, dass sie mit Sicherheit aufgrund von Strahlenschäden von uns gegangen wäre, hätte der Tod sie nicht schon vorher in seine gnädig sanften Arme geschlossen. Es sind tatsächlich Überreste von Kavernen. Die Lunge sah aus wie ein Schweizer Käse. Bis irgendetwas dafür gesorgt hat, dass die TBC abheilte. Komplett abheilte. Und neues Lungengewebe entstand.«
    »Das Gewebe ist nachgewachsen?« Ich hob die Brauen. »Das ist jetzt nicht wirklich normal, oder?«
    »Nein, das ist nicht wirklich normal«, antwortete Hades schlicht.
    Ein leichter Schwindel erfasste mich. Das also war es, was uns diesen Fall eingebracht hatte! Die unerklärliche Gesundung einer Schwerkranken. Es gab keine Neubildung von Lungengewebe. Nicht einmal mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten konnte man das erreichen. Wie war es im Jahr 1911 möglich gewesen? »Sie ist also nicht an der TBC gestorben?«
    Hades schüttelte den Kopf. »Nein. Was immer sie getötet hat, die Tuberkulose war es definitiv nicht.«
    »Und was könnte dafür gesorgt haben, dass die Lunge sich so eindrucksvoll erholt hat?«
    Hades zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, wäre ich ein reicher Mann.«
    Mein Herzschlag beschleunigte sich. »Moment mal … soll das heißen, wir haben hier nicht nur eine Leiche, die eventuell aus dem Jahr 1911 stammt – die hatten damals auch ein Mittel gefunden, um die TBC zu heilen?« Meine Stimme überschlug sich fast.
    Hades blickte mich an. »Möglich. Oder es war ein Wunder. Mein Glaube an Wunder ist allerdings rudimentär.« Er griff nach einem kleinen Fläschchen mit Desinfektionsmittel und balancierte es wie beiläufig auf einem Zeigefinger. »Es gibt übrigens noch einen weiteren Fund im Gewebe. Ein wenig rätselhaft, muss ich zugeben. Es ist ein Alkaloid, von dem ich mir nicht erklären kann, woher es kommt. Und da begegnen sich unsere Fälle. Denn dieses Alkaloid gab es auch im Gewebe der drei anderen Frauen. Allerdings mit leicht veränderter molekularer Struktur.«
    Ich nickte und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Dieser Fall wurde immer verzwickter. »Und die Herkunft des Alkaloids ist nicht zu klären?«
    Hades stellte das Fläschchen auf einem Regal ab und zuckte mit den Schultern. »Nicht zweifelsfrei. Leider. Es passt zu keiner Zuordnung in unseren Datenbanken.«
    Ich unterdrückte ein Stöhnen und spürte, wie sich ein leichter Druck hinter meinen Schläfen aufbaute. »Wissen wir denn sicher, dass diese junge Dame hier Patientin in den Heilstätten war? Es wäre logisch, aber – hat das jemand überprüft? Vielleicht ist das einfach nur ein Trick, um die Tat zu verschleiern. Vielleicht ein Irrer, der ihr das Tagebuch dazugelegt hat, ihr Quecksilber und anderes gruseliges Zeug injiziert, die Kleider angezogen hat … Wir sollten sichergehen.«
    »Bisher hat das niemand geprüft«, antwortete Mirella. »Wir haben auf dich gewartet. Das ist doch etwas für dich. Du kannst dich ins Archiv vergraben und die schöne bunte Welt ausschließen.«
    Ich begegnete ihrem Blick und war mir für einen Moment nicht sicher, ob sie sich über mich lustig machte, oder mir einfach nur einen Job überlassen wollte,
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