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Die dunkle Quelle

Die dunkle Quelle

Titel: Die dunkle Quelle
Autoren: Tobias O. Meißner
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somit die
›rechte Hand‹ des Meisters.«
    Naenn lächelte
mitfühlend. »Jedenfalls: Nachdem der Herr Divon mir dies alles erzählt hatte,
stand mir ein recht deutliches Bild vor Augen: das Bild eines Mannes, der über
viele Fertigkeiten verfügt. Der Menschen für sich einnehmen kann, ohne sich
dabei in den Mittelpunkt zu drängen. Der schwierige Aufgaben in Angriff nimmt
und löst. Der gerne für andere da ist, wenn sie ihn brauchen. Der aber immer
noch unstet ist, weil er das Richtige, die eine Aufgabe, die ihn voll und ganz
in Anspruch nehmen und all seinen Eigenschaften und Talenten das höchste
abverlangen würde, nie gefunden hat. Der an seinen spärlichen freien Tagen in
den Larnwald geht und dort mit seinem alten Säbel herumfuchtelt, um nicht aus
der Übung zu geraten. Das hat mir die Wirtin vom Treuen Eselchen erzählt, als ich heute abend dort abgestiegen bin und sie gefragt habe, ob sie
Euch kennt. Und sie hat auch gesagt: ›Der Herr Delbane, das ist jener wertvolle
Mensch, der seit fünf Jahren jedes Jahr ein schönes Gedicht für meine Sammlung
verfaßt und es vom Bürgermeister unterschreiben läßt, damit ich nicht merke,
daß der Bürgermeister nichts weiter als ein Aufschneider ist‹. Und sie hat mir
das letzte Gedicht gezeigt, das Ihr für sie geschrieben habt.«
    Â»Ach, du meine Güte!«
    Â»Es war tatsächlich
unglaublich schlecht.«
    Sie sahen sich an – und
mußten dann beide lachen. Naenn wurde schnell wieder ernst, als befürchtete
sie, daß ein Lachen ihrer schweren Mission nicht angemessen wäre.
    Â»Ihr seid kein Dichter,
Herr Delbane. Ihr seid auch kein Schreiber, kein Sekretär, kein Abenteurer und
kein Turnierritter. Ihr seid etwas Besonderes, und ich bin froh, daß ich Euch
endlich gefunden habe.«
    Rodraeg fühlte sich
mittlerweile sehr unwohl. Für seine Begriffe wurde hier deutlich zuviel
Aufhebens um seine Person gemacht. »Ihr«, begann er stockend, »Ihr dürft mir
nicht zuviele Leistungen gutschreiben, die ich gar nicht erbracht habe. Die
Sache mit den Gedichten ist einfach nur mein Beruf. Für so etwas werde ich hier
bezahlt. Und daß ich damals nach Hause mußte, um das Gut meines Vaters zu
veräußern, das paßte mir gar nicht. Ich glaube, ich war zwei Jahre lang
schlechter Laune und habe keine Gelegenheit ausgelassen, meine Eltern spüren zu
lassen, daß sie mich mit ihren wirtschaftlichen Nöten von einer großartigen
Laufbahn in der Hauptstadt abhielten.«
    Naenn seufzte. Es war
ein bezauberndes Seufzen. Rodraeg ärgerte sich augenblicklich über sich selbst.
Sein Versuch, bescheiden zu wirken, war auch eine Form von Eitelkeit, weil er
Naenn dadurch zwang, ihn immer weiter zu loben. Er strapazierte dieses Mädchen
über Gebühr, und das tat ihm leid.
    Â»Ich könnte noch einen
frischen Tee kochen«, schlug er hilflos vor.
    Â»Nein danke.« Sie hatte
ihre Tasse gleich abgestellt und danach nicht mehr angerührt. »Es ist schon
sehr spät. Oder früh, sollte man besser sagen. Ich denke, wir beide sind sehr
müde. Hat dieses Rathaus eine Sonnenuhr?«
    Â»Ja.«
    Â»Dann treffen wir uns
morgen vormittags um elf auf dem Rathausplatz.«
    Â»Aber ich muß
arbeiten.«
    Â»Ich bitte Euch zu
kommen. Ich akzeptiere kein einfaches ›Nein‹, Herr Delbane, denn ich möchte
keine Schuld daran tragen, daß Ihr die größte Chance Eures Lebens einfach so
verpaßt.«
    Tausend Einwände gingen
Rodraeg durch den Kopf. Der Kuhmist. Der Maulwurf. Die Priester. Die Mahnung
des Tonkrughändlers. All das, was heute nacht unerledigt liegengeblieben war
sowie das, was morgen dem Leitsatz ›Legt es auf Rodraegs Tisch‹ unterworfen werden
würde. Ein neues Gedicht für die Wirtin. Ein neues schlechtes Gedicht für die
Wirtin, die längst alles durchschaut hatte. »Also gut. Dann morgen um elf. Soll
ich meinen alten Säbel mitbringen?«
    Â»Das wird nicht nötig
sein.« Naenn erhob sich, er tat es ihr nach. Artig gaben sie sich die Hand.
Ihre Hand war klein und warm und fühlte sich wie Blütenblätter an. »Also, dann
bis morgen, Herr Delbane. Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe.«
    Â»Ich Euch auch.«
    Sie ging zur Tür und
öffnete sie. Tatsächlich nicht abgeschlossen. Rodraeg war sich sicher, daß sie
abgeschlossen gewesen war, aber eine
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