Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die dunkle Göttin

Die dunkle Göttin

Titel: Die dunkle Göttin
Autoren: Wolfgang David; Thon Weber
Vom Netzwerk:
zweieinhalb grausigen Stunden mit einem gewissen verzweifelten Stolz von sich behaupten konnte, war, dass sie nie aufgegeben und es immer weiter versucht hatte. Selbst wenn ihre Versuche nur gezeigt hatten, dass sie für einen anderen Menschen in etwa so gefährlich war wie ein neugeborenes Kätzchen, sie hatte sich doch wenigstens bemüht. Und als Beleg dafür, so dachte sie kläglich, kann ich jede Menge blauer Flecken, eine blutige Nase und eine aufgeplatzte Lippe vorweisen. Na wunderbar!
    Als es Zeit fürs Mittagessen wurde, humpelte sie zum Speisesaal, eskortiert von Garlahna. Sie brauchte das Mittagessen genauso dringend wie das Frühstück, und nach der dritten Portion von Butterkartoffeln, gebackenen Bohnen und gebratenem Hühnchen spielte sie sehnsüchtig mit dem Gedanken, ob sie es wohl wagen konnte, um einen vierten Nachschlag an
Kartoffeln zu bitten. In diesem Augenblick trat eine junge Frau in einem schlichten grauen Kleid zu Garlahna und ihr an den langen Tisch.
    »Leeana?«
    »Ja?« Leeana sah misstrauisch von ihrem fast leeren Teller auf, den Löffel in der Hand. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht brachte ihr ein Lächeln der anderen Frau ein.
    »Ich bin Lanitha!«, erklärte sie.
    »Oh.« Leeana senkte den Löffel. »Die Archivarin?«
    »So kann man es sagen«, erwiderte Lanitha zustimmend. »Ich bevorzuge zwar die Bezeichnung ›Bibliothekarin‹, nehme aber an, dass der Ausdruck Archivarin meine Pflichten besser bezeichnet, zurzeit jedenfalls.« Sie verzog das Gesicht. »Außerdem bin ich die Leiterin unserer Schule hier in Kalatha.«
    »Oh.« Leeana bemerkte etwas spät, dass sie alles andere als begeistert geklungen hatte.
    »Wie ich sehe, hattest du einen … interessanten Tag«, bemerkte Lanitha. Ihre Stimme bebte merkwürdig, aber sie verkniff sich ein Lächeln. »Ich will versuchen, es dir nicht noch schwerer zu machen als unbedingt nötig. Aber ich muss deinen Wissensstand einschätzen.«
    Leeana hätte sie fast gefragt, warum, schluckte die Frage aber gerade noch rechtzeitig herunter. Vermutlich würde sie die Antwort bald erfahren, und wahrscheinlich schneller, als ihr lieb war.
    »Wenn du zu Ende gegessen hast«, Lanithas Ton ließ trotz seiner Höflichkeit keinen Zweifel daran, dass Leeana in diesem Augenblick zu Ende gegessen hatte!, »könntest du mich vielleicht begleiten, zusammen mit Garlahna natürlich. Es wird nicht länger als zwei oder drei Stunden dauern.«
    »Selbstverständlich«, antwortete Leeana beinahe ohne zu murren. Sie legte den Löffel auf den Tisch, streichelte ihn noch einmal bedauernd und folgte in Begleitung von Garlahna Lanitha aus dem Speisesaal.

    Lanitha lag fast richtig. Sie hatte sich in der Zeit, die sie benötigten, nur um eine Stunde geirrt. Doch am Ende dieser Prüfung war Leeana geistig ebenso erschöpft wie körperlich. Diesmal jedoch war sie wenigstens davon überzeugt, sich gut gehalten zu haben. Ihr Vater mochte vielleicht keinen Grund gesehen haben, warum er ihr beibringen sollte, ihren Feinden den Kopf abzuschlagen, aber er und ihre Mutter hatten beide ihre geistige Neugier gefördert und ermuntert, ganz im Gegensatz zu den anderen Adligen, die solche Fähigkeiten bei Töchtern für höchst unwillkommen hielten. Leeana sprach sechs Sprachen, vier davon fließend, und konnte zwei weitere lesen und schreiben. Sie hatte eine gründliche Ausbildung in Geographie, Geschichte und Literatur genossen, und außerdem höchst praktische Kenntnisse in Politik, jedenfalls in der, die auf der höchsten politischen Ebene des Königreiches praktiziert wurde. Bei jemandem ihres Alters wäre das schon erstaunlich genug gewesen, erst recht beeindruckend war es darüber hinaus, weil sie auch noch ein Mädchen war.
    Der Hauptgrund, warum sich Lanitha in der Zeit verschätzt hatte, war dann auch der, dass die Archivarin und Lehrerin sehr viel Interesse entwickelte, sich mit ihrem Prüfling über bestimmte Themen zu unterreden. Am Ende schickte sie Leeana zurück in den Speisesaal und kündigte Garlahna an, dass sie vorhatte, jeden Nachmittag eine oder zwei Stunden von Leeanas Zeit zu beanspruchen. Sie sollte als Hilfslehrerin an ihrer Schule arbeiten.
    Hätte sich Leeana dieses Lob zu Kopf steigen lassen, wäre ihr Stolz gewiss in dem Augenblick verpufft, da sie mit Garlahna etwa zwanzig Minuten zu spät zu ihrer Küchenschicht eintraf. Die Entschuldigung, dass Lanitha sie länger geprüft hatte als geplant, besänftigte den Zorn der Chefköchin nicht merklich, und ebenso
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher