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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
Autoren: Bianka Minte-König
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Denken des Menschen, sein Fühlen, ja sein ganzer Charakter, Moral und Unmoral, von der Elektrizität gesteuert werden, die durch einen Menschen und seinen Kopf hindurchfließt, das ist erschreckend, um nicht zu sagen, eine recht gruselige Vorstellung, findest du nicht, Liebste?«
    Ich lachte, um der Sache die Dramatik zu nehmen, besonders da sie mich unmittelbar betraf.
    »Es wird nie gelingen, das zu ergründen«, sagte ich. »Niemand kann in die Köpfe der Menschen schauen, um herauszufinden, was in ihren Gehirnen passiert und was ihr Verhalten steuert. Ebenso wenig wie man sagen kann, wo der Sitz der Seele ist. Im Kopf oder im Herzen oder ganzwoanders, denn bisher hat man sie ja in keinem von beiden finden können.«
    Ich lachte erneut, obwohl mir dazu gar nicht zumute war, zu gerne hätte ich mit Friedrich mein tatsächliches Wissen über die Seele geteilt. Aber ich konnte es ihm nicht erzählen, denn wie hätte er auch verstehen sollen, dass, wenn der Leib längst zu Staub zerfallen ist, die Seele noch jahrhundertelang rastlos über das Erdenrund jagen kann.
    So war klar, dass etwas geschehen musste. Vor allem musste dieser Dämmerzustand zwischen Hoffnung und Resignation beendet werden. Ich musste anfangen wirklich zu leben. Als Estelle zu leben. Meist empfand ich das als ganz und gar unmöglich, aber an manchen Tagen schien es mir nicht besonders schwer, denn während meine Erinnerung mehr und mehr verblasste, setzten sich immer mehr Bilder und Namen aus Estelles Leben in meinem Kopf fest und ich hatte mitunter das Gefühl, nicht mehr wie ich, sondern wie sie zu denken und Sehnsüchte zu entwickeln, die einer jungen, aufblühenden Frau entsprachen und nicht meiner alten, gequälten Seele. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, mit Friedrich auf einen der von ihm erwähnten Bälle zu gehen, die Nacht ausgelassen zu durchtanzen, Musik und Geselligkeit um mich zu haben … Und ich nahm immer öfter diese Vorstellungen mit hinüber in meine Tagträume.
    Häufig, wenn ich abends munter wurde, tauchte Friedrich auf und lud mich ein, mit ihm das nächtliche Berlin zu erkunden.
    Das machte mir viel Spaß, denn er führte mich in Theater und Varietés und in Künstlerkneipen in verwinkelten Altstadtgassen, wo man ihn überall kannte.
    Er stellte mir Schauspieler, Dichter und Maler vor, undwenn irgendwo eine Vernissage stattfand, so gingen wir dort zusammen hin. Es waren amüsante Leute, mit denen Friedrich verkehrte, und die Diskussionen, die er mit ihnen führte, schärften auch meinen Geist und erweiterten meine Kenntnisse über die Gegenwart und insbesondere das Leben, die Kunst und die Liebe in der Reichshauptstadt.
    Meine Haut war wieder rein und klar und, da sie kein Sonnenstrahl traf, von einer edlen durchscheinenden Blässe, die bei den Herren der Berliner Schickeria viel Anerkennung fand. Vielleicht weil sie von einem Leben im Nichtstun zeugte und so einen wohlhabenden Hintergrund bei mir vermuten ließ. Wie sehr sich Menschen doch von einer Fassade einnehmen lassen!
    Obwohl folglich alles recht gut arrangiert war und mir die nächtlichen Streifzüge, die meiner Natur so gut entsprachen, gefielen, redeten Hansmann und Vanderborg nur von einem unsoliden Lebenswandel, den ich dringend ändern müsste. Die Notwendigkeit sah ich freilich nicht. Es machte mir im Gegenteil inzwischen richtig Spaß, die Tage zu verschlafen und die Nächte auf der Suche nach neuen Erfahrungen mit Friedrich zu durchstreifen.
    Ich hätte mir wirklich keinen stattlicheren und charmanteren Begleiter wünschen können und oftmals war ich richtig stolz, weil ich mit ihm dies alles erleben durfte. Allerdings wuchs zwischen uns auch eine gefährliche Nähe, die es mir immer schwerer machte, von ihm als einem Bruder zu denken, der für mich unberührbar war. Häufig floh ich geradezu seine Gesellschaft, wofür Friedrich natürlich jedes Verständis fehlte, und so nahm auch er immer mal wieder Anstoß an meinem, wie er meinte, unnatürlichen Leben und ließ nichts unversucht, endlich einen Arzt aufzusuchen, um ein Mittel gegen meine vermeintliche»Krankheit« zu finden. Doch immer wenn er mich in die Charité bringen wollte, befiel mich eine unsägliche Angst und ich erfand jedwede Art von Ausreden, um mich davor zu drücken.
    »Es kann nur eine Veränderung sein, die der Blitz verursacht hat, niemand kann so etwas rückgängig machen. Wenn ich mich schone, wird es zu ertragen sein, und dem Vater sagen wir, damit die Schuld ihn nicht zu sehr
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