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Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)

Titel: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Autoren: Benjamin Constable
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schaffen können, wenn uns nicht diese eine, alles überschattende Tatsache im Weg stünde, die jede Hoffnung zunichtemacht. Es ist eine offensichtliche Tatsache, die dir absolut bewusst ist, Ben Constable. Und diese Tatsache ist, dass der Tod unserem Gespräch ein Ende setzen wird, lange bevor die Ewigkeit auch nur in erreichbare Nähe rückt.)
    Und dies bringt mich zu meinem leidigen Punkt zurück. Ach, wenn ich doch schon viel früher damit herausgerückt wäre – einmal habe ich es sogar versucht, als ich dich noch nicht so gut kannte, damals erschien es mir leichter. Erinnerst du dich, Ben Constable, wie du einmal mit Freunden in einer Bar ein paar Straßen weiter gewesen bist und ich dich angerufen habe, nur um Hallo zu sagen (mir ging es gerade nicht besonders)? Du hast mich überredet zu kommen und ich wollte dir nicht die Stimmung vermiesen, ich wollte schnell wieder gehen, aber du hast dich die meiste Zeit nur mit mir unterhalten, bis deine Freunde irgendwann zu einer Party weiterzogen und wir allein sitzen blieben und Wein tranken, bis die Bar zumachte. Danach sind wir durch Ménilmontant spaziert und ich habe dir die kleine Kopfsteinpflasterstraße am oberen Ende gezeigt, das versteckte Plätzchen, an dem wir dann saßen und ein paar Zigaretten rauchten, aber bis dahin war der Punkt schon wieder ein Stück in die Ferne gerückt. Ich fand es schön, einfach dort mit dir zu sitzen und zu lachen, leise, um die Anwohner nicht zu stören, und ich war kein bisschen mehr traurig und irgendwann war der Punkt vollkommen außer Reichweite. Vielleicht markiert dieser Abend den Anfang all unserer Gespräche, dieses einzigen wortüberladenen, endlosen Satzes (des lockeren, fröhlichen Abschweifens, der stetigen Flucht vor dem Punkt). Ich bin gerade ziemlich stolz; wie es aussieht, habe ich einen weiteren Absatz zustande gebracht, ohne dir zu verraten, warum ich dir eigentlich schreibe.
    Aber dies hier ist kein Spiel, denn dieses eine Mal ist der Punkt nicht das Ende. Er ist der Anfang von etwas Neuem, etwas Großem, der Auftakt zu einem Abenteuer, Ben Constable. Tja, jetzt ist es wohl so weit (ich suche krampfhaft nach einer weiteren drängenden Ablenkung, mit der ich den Moment hinauszögern kann, aber es gibt keine mehr): Der Punkt ist, dass ich sterben werde.
    Natürlich ereilt uns alle irgendwann der Tod, aber bei mir wird es schneller gehen. Ich habe nicht vor, die Angelegenheit in die Länge zu ziehen und mich verzweifelt an das schwindende Licht meiner letzten Tage zu klammern; ich werde mich umbringen. Tut mir leid. Ich kann mir vorstellen, wie wenig vergnüglich das alles für dich ist. Aber ich wollte mich von dir verabschieden.
    Und außerdem wollte ich dir von meinem Plan erzählen: Du sollst etwas erben – oder vielmehr eine ganze Menge –, etwas, woran ich schon vor Jahren angefangen habe zu arbeiten, lange bevor ich dich überhaupt kannte – seit meiner Kindheit, um genau zu sein. Was es ist, kann ich dir noch nicht verraten, das würde alles verderben. Es ist eine Überraschung.
    Wenn dich dieser Brief erreicht, werde ich schon ein paar Stunden tot sein. Während ich das hier schreibe, Ben Constable, bin ich traurig, weil du mir jetzt schon fehlst. Es ist ein Jammer, dass nun alles enden muss. Aber ich wünsche mir nun mal ein selbstbestimmtes, würdiges Ende. Ich glaube, du verstehst das, weil du weißt, dass ein Ende nicht immer ein Abschluss sein muss und das alles bloß eine Frage der Definition ist, ein Punkt, an dem sich die Handlung ändert, das Thema oder das Tempo.
    Hey, kann ich dir was erzählen? Nur ein bisschen Blödsinn, nichts Aufregendes. Aber selbst in diesem Moment gehen mir alle möglichen Dinge durch den Kopf, die mir etwas bedeuten, Dinge, die ich als so etwas wie Schätze betrachte. Die würde ich dir gern zeigen. Es würde mich so freuen, wenn du davon wüsstest.
    Der erste Schatz ist der Blick, der sich mir bietet, während ich dies schreibe. Ich liebe die gezackten Umrisse der Bäume bei Nacht und ebenso die sonnigen Tage, an denen ich durch die kahlen Äste dabei zusehen kann, wie sich auf dem Platz die Leute um den verschnörkelten Trinkwasserbrunnen versammeln oder draußen vor dem Salon de thé sitzen und rauchen. Ich liebe die große Freitreppe vor der Kirche, die sich über dem Viertel erhebt wie ein Wachposten. Ich liebe den ganzen Krimskrams, der sich in meiner Wohnung angesammelt hat, jedes Stück davon mit einer kleinen Geschichte verbunden, die zusammen mit mir
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