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Die drei Frauen von Westport

Titel: Die drei Frauen von Westport
Autoren: Cathleen Schine
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selben Jahr«, fuhr Cousin Lou fort, »fand jemand, es sei doch eine gute Idee, zwanzigtausend Flüchtlingskinder in den USA aufzunehmen. Kinder wie mich. Wisst ihr, dass ich mit einem Schiff hierhergekommen bin, als ich noch klein war?«
    Annie nickte abermals. Sie wusste Bescheid über den ZweitenWeltkrieg und den Holocaust, weil sie sich einmal eine erschütternde Dokumentation im Fernsehen angeschaut hatte.
    Miranda begann auf den Fersen zu wippen.
    »Zwanzigtausend!«, fuhr Cousin Lou fort. »Das sind viele Jungen und Mädchen, nicht wahr? Deshalb musste man erst den Kongress um Erlaubnis fragen, der solche Dinge entscheidet. Aber der Kongress hat gesagt: Nein, wir wollen diese zwanzigtausend Kinder nicht.Was sollen wir denn mit zwanzigtausend Kindern? Wir haben doch unsere eigenen!«
    An diesem Punkt der Geschichte nahm Annie Miranda an der Hand. Hatte Miranda womöglich auch schon vom Holocaust gehört? Wippte sie deshalb so komisch auf und ab?
    »Unsere eigenen Kinder«, sagte Annie, um die Erzählung zu beschleunigen.
    »Nun, ich habe Mrs. H. nie persönlich kennen gelernt, aber es kommt mir so vor, als seien wir alte Freunde. Und eines Abends war Mrs. H. auf einer Party, und da sagte sie, das Problem mit derWagner- R ogers-Bill – so hieß diese Gesetzesvorlage – , also zwanzigtausend Kinder in den USA aufzunehmen, bestünde darin, dass sie bald darauf zwanzigtausend abscheuliche Erwachsene sein würden!«
    Miranda begann zu schluchzen, jedoch nicht, weil sie Bescheid wusste über den Holocaust, sondern weil sie Angst hatte vor so vielen abscheulichen Menschen. Danach hatte sie eineWoche lang Albträume, aber niemand machte Cousin LouVorwürfe. Es war schlechterdings unmöglich, Cousin Lou für irgendetwasVorwürfe zu machen. Und im Laufe der Zeit geriet die Geschichte von Mrs. H. zu einem Begrüßungsritual, wann immer Cousin Lou und die Mädchen sich trafen.
    Wenn Lou die Geschichte später erzählte, ließ er sich mehr Zeit dabei. Er verengte die Augen und schürzte die Lippen, als müsse er angestrengt nachdenken. Dann sagte er »Mrs. Houghteling«, wobei er das H und das gh mit einem übertrieben harten jiddischen ch aussprach, was sich anhörte, als müsse er einen Haarball auswürgen. Erst Jahre später kamen Annie und Miranda dahinter, dass die korrekte Aussprache des Namens »Hefftling« lautete. »Mrs. Checht ling«, trällerten die Mädchen damals und spürten, wie dieses scheußlicheWort für eine scheußliche Person aufregend in ihrem Hals vibrierte. Dann zuckte Lou immer die Achseln und sagte: »Tja, ich muss ein besonders hübsches Baby gewesen sein.« Und Miranda und Annie antworteten im Sprechchor wie fromme Kirchgänger: »Das kann man heute noch sehen.«
    Sie hatten die Geschichte so oft zu hören bekommen, dass »chechtling« in der Familie Weissmann zum Synonym für arrogantes Verhalten wurde. »Hör bloß mit diesem chechtling auf, du schnöselige Ziege«, sagte Miranda beispielsweise, wenn Annie über jugendliche Stilextravaganzen von Miranda die Nase rümpfte. »Du bist doch echt eine selbstsüchtige, spießbürgerliche Chechtlerin «, kommentierte Annie, als Miranda sich über ihre kurze maoistische Phase in der achten Klasse lustig machte.
    Cousin Lou, der darauf bestand, dass alle ihn so nannten, war nicht eben dezent, aber aufrichtig. Als Immobilienmakler hatte er viel Geld verdient, doch seine eigentliche Berufung schien darin zu bestehen, eine größtmögliche Menge an Gästen mit Speis undTrank zu bewirten. Er liebte seine amerikanische Adoptivfamilie von Herzen, hatte jedoch die Auffassung von seiner Familie im Laufe der Jahre so nachhaltig erweitert, dass seine Familie nicht mehr in einem Haus zu bewirten war. Auch zwei Häuser reichten nicht mehr aus. »Ihr gehört zur Familie!«, pflegte Cousin Lou zu sagen und zählte dabei Schnorrer, Freunde, Mitläufer und entfernte Bekannte ebenso zur Familie wie angeheirateteVerwandte und irgendwelche Kinder aus der Nachbarschaft. Wie viele Immigranten war er mit Leib und Seele Patriot und erachtete seine obsessive Gastfreundlichkeit als Bürgerpflicht.
    Seine erste Anpassung an die Überzahl von Gästen bestand darin, für sich selbst ein größeres Haus zu bauen. Cousin Lou wohnte jetzt in einem riesigen, modernen Haus mit vielen Glasflächen auf einer Anhöhe mit Blick auf den Long Island Sound. Doch nicht einmal in diesem Anwesen konnte er alle Gäste zugleich empfangen. Die Freunde, die er als »seine Familie« bezeichnete,
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