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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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Sven.
    »Der sitzt neben mir«, seufzte ich und drehte unserem scheuen Zaungast demonstrativ den Rücken zu.
    »Wie heißt er?«, fragte Sven.
    Ich zuckte mit den Achseln.
    »Wie heißt du?«, fragte Sven das Häufchen Elend.
    »Be … Bernhard«, stammelte der Junge, tat mutig drei, vier weitere Schritte und stand dann direkt neben uns. »W-wollt ihr Sch-schokolade?«, flüsterte er. Er fingerte eine halb gegessene Tafel aus seine Jackentasche und hielt sie uns hin. Wir griffen zu. Vielleicht war der Kerl doch nicht so übel …

    Tatsächlich war Bernhard erstaunlich. Nie hätte er in der Klasse seinen Finger gehoben, und wenn die Lehrerin ihn direkt ansprach, ihn etwas fragte, dann antwortete er nur flüsternd, meist auch noch stotternd. Wenn Bernhard aber mit uns allein war – auf dem Schulhof, einem Spielplatz oder bei einem von uns zu Hause –, dann wiegte er sich in Sicherheit. Dann wurde seine Stimme lauter. Er erzählte. Schnell, atemlos, ohne den Hauch eines Sprachfehlers. Und er erzählte Unglaubliches! Bernhard berichtete uns von den Leuten, die in Afrika wohnten. Neger, sagten wir damals, ohne es böse zu meinen. Die schickten ihre Kinder irgendwann in den Dschungel, nur mit ein paar Bananen und einem Speer ausgerüstet. Und wenn sie nach drei Tagen immer noch lebten, nicht verhungert oder von einem Löwen zerkaut worden waren, dann waren sie plötzlich Erwachsene. Sven hatte nächtelang Alpträume von dieser Geschichte.
    Bernhard erzählte uns vom Nordpol, wo manchmal wochenlang einfach nicht die Sonne aufging – echt wahr! Und er erzählte uns von einem Kerl namens Kolumbus, der mit seinem Schiff irgendeine Abkürzung nach weiß der Geier wohin gesucht hatte und dann plötzlich in Amerika gelandet war. Amerika, erklärte uns Bernhard, war damals allerdings noch fast ohne Leute. Nur Indianer, keine Cowboys.
    Wenn wir anderen uns unterhielten, redeten wir meist von uns selbst. Ich erzählte von meiner neuen Spielzeugeisenbahn, Sven berichtete begeistert, dass seine Mutter mit ihm am letzten Wochenende in den Zirkus gegangen war, Susann, die Svens beste Freundin geworden war und deshalb auch zu uns gehörte, zeigte das kleine Kleid vor, dass sie ihrer Puppe genäht hatte – »Fast ganz allein, Mama hat nur ein bisschen geholfen!« –, und Petra schwärmte davon, wie sie der doofen Hildegard aus ihrer Klasse die Finger im Kippfenster der Aula eingeklemmt hätte. Zwei von Hildegards Fingern waren blau angelaufen, und Petra musste zur Rektorin. Die hatte gezischt, dass das so gar nicht damenhaft gewesen sei. Als ob Petra das gejuckt hätte!
    Bernhard aber redete nie von sich oder von seinem Zuhause. Er erzählte von Afrika, China und davon, dass wohl bald ein Mensch auf den Mond fliegen werde. Wir fragten Bernhard auch nichts über sein alltägliches Dasein. Denn auch wenn wir es nicht wirklich kapierten, so hatten wir doch eine ungefähre Ahnung, dass Bernhards Familienleben kein Quell steter Freude war. Wir sahen auf dem Nachhauseweg oft genug seine Eltern, die am U-Bahnhof mit ihren Freunden auf der Bank saßen, Apfelkorn und Bier tranken und lautstark lachten. Und wir hatten gesehen, wie Bernhard sich an ihnen vorbeizuschleichen versuchte, wie ihn seine Mutter aber manchmal bemerkte, ihn zu sich rief, ihn schwankend drückte und ihn in die Mitte des besoffenen Kreises zerrte. Dort sollte der arme Bernhard irgendetwas erzählen, von der Schule oder so. Bernhard stotterte in diesen Momenten noch mehr als sonst. Aber das schien seine Eltern nicht zu stören. Oder besser: Sie merkten es gar nicht. Doch, wir verstanden, warum Bernhard eine Reise auf den Mond so reizvoll fand.
    Heute denke ich, dass Bernhard eines dieser beklagenswert »begabten Kinder« war, ein hyperintelligentes Geschöpf, dass man gezielt hätte fördern oder betreuen müssen. Als wir anderen uns noch durch den grundlegenden Aufbau des Alphabets quälten, konnte er bereits mehr oder weniger flüssig lesen. Seine Oma, die manchmal auf ihn aufpasste, hatte ihm die Buchstaben gezeigt und benannt, ihn mit dem grundsätzlichen Konzept der Schrift bekannt gemacht, den Rest hatte er sich dann irgendwie allein ausgetüftelt. Ich, mit meinem Standardgehirn, habe nie wirklich verstanden, wie das funktionierte. Es war, als ahnte Bernhard, dass Lesen die beste und sicherste Flucht aus der Wirklichkeit war – und er setzte alles daran, sich diesen Fluchtweg so schnell wie möglich zu ebnen.
    Ich stelle mir vor, wie Bernhard zu Hause auf
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