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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Autoren: Gernot Gricksch
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Nichts, worauf sechsjährige Jungen viel Gedanken verschwendeten. Ich brauchte einen Kumpel, einen Verbündeten. Als ich den Klassenraum betrat – von meinen Eltern mit einem Viel Glück und viel Spaß! -Küsschen verabschiedet und nun ganz auf mich allein gestellt –, sondierte ich die Lage, hielt Ausschau nach potenziellen Kontaktpersonen.
    Die meisten meiner Mitschüler hatten sich schon einen Platz gesucht und schnatterten fröhlich und aufgeregt mit ihren Sitznachbarn. Drei freie Plätze waren noch da – einer neben einem Mädchen, indiskutabel also, einer neben dem Schreihals Dilbert, der hemmungslos auf dem Tisch herumtrommelte und irgendetwas sang, und einer neben dem stillen, traurigen Jungen, den ich schon auf dem Schulhof beobachtet hatte. Auch jetzt sah er wieder ganz verhuscht aus, starrte auf die Tischplatte, als würde dort eine geheime Botschaft darauf warten, von ihm entziffert zu werden. Ganz automatisch, wie ferngelenkt, bewegte ich mich auf dieses Häufchen Elend zu, ließ mich neben ihm nieder, ließ meine Schultüte auf den Tisch plumpsen und murmelte, freundlich wie ich fand, »Hallo«.
    Der Junge schaute entsetzt hoch, sah mir direkt ins Gesicht, zögerte und … senkte seinen Kopf wieder. Ich würde jetzt gern behaupten, ich hätte Mitleid mit ihm gehabt, hätte ihm Unterstützung und Halt geben wollen. Aber so war das nicht. Ich hätte mir in diesem Moment in den Arsch treten können, hatte ich mich doch mit dem offenkundigsten Versager der Klasse gepaart! Ich hatte mich nur zu ihm gesetzt, weil die einzige Alternative im Chaoten Dilbert bestand, der mich zweifelsohne binnen Minuten untergebuttert hätte. Neben Dilbert hätte ich das gesamte Schuljahr hindurch die zweite Geige gespielt. Nee, da wollte ich dann doch lieber so einen stillen, folgsamen Kerl, der tat, was ich ihm sagte. Einen wie Sven eben. Aber verglichen mit diesem schreckhaften, stummen Wesen war Sven ein resolutes Energiebündel. Ich seufzte.
    Die Lehrerin betrat die Klasse. Sie hieß Frau Brackner und hatte ein entsetzlich gezwungenes Lächeln. Ich war erst sechs Jahre alt und glaubte noch an den Weihnachtsmann – aber als diese Frau sagte, sie freue sich, uns kennen zu lernen, wusste ich, dass sie log. Solch eine schlechte Schauspielerin war Frau Brackner!

    Es klingelte, und Frau Brackner teilte uns mit, dass dies das Zeichen für die große Pause sei. Wir hätten zwanzig Minuten Freigang im Hof. Ich stürmte hinaus, um Sven zu finden. Er stand neben dem Klettergerüst und trank ein Orangen-Sunkist, das damals noch in diesen schicken dreieckigen Trinktüten verkauft wurde. Ich lief zu ihm hinüber und erzählte ihm aufgeregt von der gar nicht sympathischen Frau Brackner und dass ich meine Jacke an den Haken hängen sollte, über dem das Bild eines kleinen roten Autos prangte. Sven war völlig gelassen und berichtete, dass sein Lehrer Herr Krüger heiße und total witzig sei. Und über seinem Haken war eine Rakete. Er führte also 2:0.
    Dann geschah etwas schlichtweg Unglaubliches: Ein Mädchen ging an uns vorbei, ein zierliches Geschöpf mit dicken blonden Zöpfen, großen braunen Kulleraugen, einem herzigen Lächeln und einem geblümten Kleid. Eindeutig ein Mädchen – und es winkte Sven zu! Und Sven winkte tatsächlich zurück!
    Ich war entsetzt!
    »Wer is’n das?«, fragte ich mit unverhohlener Abscheu.
    »Das ist Susann«, antwortete Sven und schlürfte einen weiteren Schluck Sunkist. »Die sitzt neben mir.« 
    Gerade mal zwei Stunden war Sven aus meiner Obhut, und schon machte er Dummheiten! Sich neben ein Mädchen zu setzen … um Himmels willen! Wenn Mädchen so waren wie Petra – permanent schmutzig, mit aufgeschlagenen Knien und einer Rauferei gegenüber nie abgeneigt –, dann konnte man vielleicht mal eine Ausnahme machen, aber so ein richtiges Mädchen, eines mit Zöpfen, mit einem Kleid ! So was tat man einfach nicht!
    »Die is’ nett!«, sagte Sven, als könnte er meine Gedanken lesen. »Und die kann durch ihre Zahnlücke pfeifen.«
    Dazu fiel mir nichts ein.
    Wir redeten ein wenig über die anderen Bilder über den Kleiderhaken und dass wir beide gern das mit dem Löwen gehabt hätten, bis ich plötzlich spürte, dass wir nicht mehr allein waren. Ich drehte mich um und sah, dass mein stiller Sitznachbar sich uns genähert, sich regelrecht angepirscht hatte. Er stand nur einen halben Meter von uns entfernt. Als ich mich umdrehte, sah er sofort wieder zu Boden. »Kennste den?«, fragte
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