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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen
Autoren: Liz Jensen
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seine Schlussfolgerungen erweckten in mir den Verdacht, dass er womöglich krank war, als er sie niederschrieb. Ich denke nur ungern daran, dass mein Mentor geistig labil gewesen sein könnte. Vor allem jetzt, da er tot ist und ich nicht mehr herausfinden kann, was genau er gemeint hat.

    Die Vorstellung, dass die Kinder tatsächlich gereist sind – nicht vorwärts im Raum, sondern rückwärts durch die Zeit –, ist ebenso heroisch wie undenkbar. Doch wie sonst sollte man die schleichende Besatzung unserer Welt erklären?
    Und was, wenn sie nun tatsächlich die Manifestation einer möglichen Zukunft der Menschheit wären? Wenn sie nicht gekommen wären, um uns »heimzusuchen« (worauf die Abergläubischen unter uns beharren), sondern umuns – wenn auch nur in Ausschnitten – das grauenhafte Vermächtnis zu zeigen, das unsere Ära ihnen hinterlassen wird, wenn wir die Plünderung der Erde ungehindert fortsetzen? Dann nämlich könnte man ihre Ankunft als verzweifelten Versuch betrachten, diese Zukunft abzuwenden, indem man sie im Keim erstickt.
    Angesichts ihrer destruktiven Methoden scheint es jeglicher Intuition zu widersprechen, den Kindern für ihre Taten zu danken. Doch der Instinkt gehorcht ganz eigenen Gesetzen, genau wie die DNA . Können wir ihnen allen Ernstes vorwerfen, dass sie nach dem Überleben streben, wenn dieses Überleben auch das unserer eigenen Nachkommen ist?
    Als Professor Whybray an jenem Tag in Ashoks Büro von einem neuen Paradigma sprach, tat ich das als »fantasievolle Spekulationen« ab. Ich hatte nie in Betracht gezogen, dass ich mich irren könnte. Der letzte Eintrag in Professor Whybrays Notizbuch ist sehr kurz.

    Wir sind eine Spezies in einer Krise: eine Spezies am Rande des Zusammenbruchs. Falls das unsere Krisenintervention ist, bin ich froh, zumindest den Anfang miterlebt zu haben, so entsetzlich die unmittelbaren Folgen auch sein mögen. Ich fürchte, dass von allen Menschen auf diesem Planeten mein geliebter Hesketh es als Letzter begreifen und als Letzter den nötigen Sinneswandel vollziehen wird. Er ist blind, weil er stets Beweise braucht.
    Das zu lesen, tut sehr weh. Er hat meine Denkweise immer gelobt. Und doch verurteilt er sie hier schwarz auf weiß. Falls ein »Sinneswandel« nötig ist, wie vollzieht man ihn? Und inwiefern muss ich mich wandeln? Ich würde gerne Einstein oder Platon den Inhalt von Professor Whybrays Notizbuchzeigen oder einem der Physiker im CERN oder dem japanischen KEK-Forschungszentrum, deren Aufgabe es ist, die unsichtbare Welt zu kartografieren und zu bewerten. Doch so muss ich mich auf den einzigen Experten beschränken, der mir zur Verfügung steht, einen siebenjährigen Jungen.
    »Freddy K, hol doch mal ein paar alte Zeitungen vom Stapel da drüben.« Ich deute mit dem Finger dorthin. Sein Gesicht ist leer. Ich will es schon aufgeben oder später versuchen, als ich den kleinen Schauer sehe, den ich schon kenne: das Anzeichen für ein mentales Umschalten. »Freddy K, wir bauen jetzt die Welt. Deine Welt, nicht die alte.«
    »Okay.«
    »Gibt es Bäume?«
    »Nur tote.«
    »Dann hol ein paar Zweige.«
    Schon bald macht er sich an einem Weißdornzweig zu schaffen. Während er beschäftigt ist, falte ich ein halbes Dutzend Origami-Männchen, wie ich sie für Sunny Chen gemacht habe. Mir fällt ein, dass unter dem rostigen landwirtschaftlichen Gerät ein Sack mit Sand liegt. Ich zerre ihn hervor, schütte den Sand in den Hausflur und streue etwas grobes Spülmaschinensalz obendrauf.
    Na bitte. Eine funkelnde, weiße Wüste, die wie der Himmel aussieht. Sofort ist Freddy völlig aufgeregt. Er sagt nichts, rennt aber los, um die Origami-Figuren und die improvisierten Bäume zu holen.
    »Was jetzt?«, frage ich.
    Zuerst pflanzt er die Zweige und verteilt sie in Gruppen. »Schere«, sagt er.
    Als ich sie ihm gebe, zerschnippelt er seelenruhig meine Origami-Figuren.
    »Was machst du da?«
    Er gräbt ein flaches Loch und wirft sie hinein. »Sie sterben.«
    »Wer?«
    »Die Leute. Sie werden krank. Vom Gift und von der Sonne. Ihre Augen platzen. Dann sterben sie, und wir begraben sie in Salz. Und wenn sie gar sind, graben wir sie wieder aus. Zum Essen.« Er wirft eine Handvoll Sand und Salz über die zerschnittenen Teile.
    »Das ist aber eine traurige Geschichte, Freddy.«
    »Das ist keine Geschichte.«
    »Aber wenn es eine wäre, wie würde sie weitergehen?«
    Wieder verändert sich seine Miene. Wie ein Schlafwandler steht er vom Tisch auf und öffnet die
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