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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor
Autoren: Jules Verne
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Augenblick, meinen
    Qualen ein Ende zu machen, ist gekommen. Das Zer-
    ren des Hungers und das Stacheln des Durstes zerreißt
    mich mit erneuter Heftigkeit und der Trieb der Selbst-
    erhaltung erlischt in mir. In einem Augenblick habe ich
    aufgehört zu leiden! Gott erbarme sich meiner!
    In diesem Moment erhebt sich eine Stimme, ich er-
    kenne die des Zimmermanns.
    Daoulas steht neben Robert Kurtis.
    »Kapitän«, sagt er, »wir wollen nun losen.«
    Im Begriff mich ins Wasser zu stürzen, halte ich doch
    ein. Warum? Ich weiß es selbst nicht, doch ich schleppe
    mich nach dem Heck des Floßes zurück.
    53
    26. Januar. – Der Vorschlag ist gemacht. Alle haben ihn
    gehört, alle verstanden. Seit einigen Tagen schon war
    er zur fixen Idee geworden, die nur niemand in ihrer
    Nacktheit auszusprechen wagte.
    Man will das Los entscheiden lassen.
    Jeder soll einen Teil von dem erhalten, den das Los
    zum Opfer bezeichnen wird.
    Nun gut, es sei! Wenn mich das Los träfe, ich würde
    mich nicht beklagen.
    Mir scheint, daß eine Ausnahme zu Gunsten von Miss
    Herbey vorgeschlagen worden ist, und daß sie von An-
    — 297 —
    dré Letourneur angeregt wurde. Doch ein Murmeln des
    Unmuts wird unter den Matrosen hörbar. Wir sind elf
    an Bord. Jeder hat also zehn Chancen für und nur eine
    gegen sich; die vorgeschlagene Ausnahme würde dieses
    Verhältnis umstoßen. Miss Herbey muß das Schicksal
    aller anderen teilen.
    Es ist nun halb 11 geworden. Der Hochbootsmann,
    den Daoulas’ Vorschlag wieder belebt hat, dringt dar-
    auf, daß die Verlosung sogleich vorgenommen werden
    solle. Er hat recht. Übrigens hängt wohl keiner von uns
    besonders am Leben, und der, den das Los treffen wird,
    geht ja den Übrigen nur um wenige Tage, vielleicht nur
    um wenige Stunden im Tod voran. Man weiß das; der
    Tod hat seinen Stachel verloren. Aber nicht 1 oder 2
    Tage mehr von diesem Hunger leiden, und diesen ent-
    setzlichen Durst empfinden, das will man, das wird man
    erreichen.
    Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß sich alle un-
    sere Namen in einem Hut befinden; es kann nur Falsten
    gewesen sein, der sie auf ein aus seinem Notizbuch her-
    ausgerissenes Stück Papier geschrieben hat.
    Die elf Namen sind vorhanden, und man kommt
    ohne Gegenrede dahin überein, daß der letzte Name,
    der gezogen wird, das Opfer bezeichnen soll.
    Wer wird die Auslosung vornehmen? Alle zaudern
    ein wenig.
    »Ich«, antwortet da einer von uns.
    — 298 —
    Ich sehe mich um und erkenne Mr. Letourneur.
    Er steht da, bleich, mit vorgestreckter Hand, seine
    weißen Haare fallen ihm über die ausgehöhlten Wan-
    gen, und er erschreckt durch seine gespenstige Ruhe!
    Ach, unglücklicher Vater, ich verstehe dich; ich weiß
    es, warum gerade du die Namen aufrufen willst! Deine
    väterliche Opferfreudigkeit wird auch so weit gehen.
    »Wenn es Ihnen gefällig ist!« sagt der Hochboots-
    mann.
    Mr. Letourneur senkt die Hand in den Hut, ergreift
    ein Zettelchen, entfaltet es, spricht mit lauter Stimme
    den Namen aus, den es trägt, und übergibt es demjeni-
    gen, den es bezeichnet.
    Der erste herausgezogene Name ist der Burkes, der
    einen Freudenschrei ausstößt.
    Der zweite der Flaypols.
    Der dritte der des Hochbootsmanns.
    Der vierte der Falstens.
    Der fünfte der Robert Kurtis’.
    Der sechste der Sandons.
    Die Hälfte der Namen und einer darüber ist ausge-
    rufen.
    Meiner ist nicht gekommen, und ich versuche die
    Chancen zu berechnen, die mir noch bleiben: Vier gute
    gegen eine schlechte.
    Seitdem Burke jenen Schrei ausstieß, hat niemand ein
    Wort vernehmen lassen.
    — 299 —
    Mr. Letourneur fährt in seinem traurigen Geschäft
    fort.
    Der siebte Name ist der von Miss Herbey, aber das
    junge Mädchen verrät kein Zeichen der Freude.
    Der achte Name ist meiner. Ja! Meiner!
    Der neunte Name:
    »Letourneur!«
    »Welcher?« fragt der Hochbootsmann.
    »André!« antwortet Mr. Letourneur.
    Da hört man einen wiederholten Schrei, und André
    stürzt bewußtlos zusammen.
    »Nur vorwärts!« ruft der Zimmermann Daoulas, des-
    sen Name mit dem von Mr. Letourneur allein noch im
    Hut zurückgeblieben ist.
    Daoulas betrachtet seinen Rivalen als das Opfer, das
    er verschlingen will. Mr. Letourneur selbst zeigt fast ein
    Lächeln. Er führt seine Hand wieder in den Hut, er zieht
    das vorletzte Los heraus, entfaltet es langsam, und ohne
    daß seine Stimme zittert und mit einer Seelenstärke, die
    ich diesem Greis kaum zugetraut hätte, spricht er den
    Namen »Daoulas!«
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