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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor
Autoren: Jules Verne
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ma-
    che eine schmerzliche Anstrengung und erhebe mich.
    Kein Land ist sichtbar. Flaypol läuft auf der Plattform
    umher, er lacht, singt und gibt Zeichen nach der einge-
    bildeten Küste hin! Unleugbar sind die direkten Sinnes-
    tätigkeiten des Gehörs, des Gesichts und Geschmacks
    bei ihm gänzlich erloschen, doch ist er von einer rein
    zerebralen Erscheinung vollkommen erfüllt. Er spricht
    auch mit abwesenden Freunden. Er führt sie nach der
    Schenke in Cardiff, dort bietet er ihnen Gin, Whisky,
    Wasser an, – Wasser besonders; Wasser, das ihn trunken
    macht! Da geht er über all die daliegenden Körper weg,
    stolpert bei jedem Schritt, fällt hin und erhebt sich wie-
    der, singt mit weinseliger Stimme und hat das Aussehen,
    als befände er sich im stärksten Grad der Trunkenheit.
    Unter der Herrschaft seines Wahnsinns leidet er nicht,
    und sein Durst ist gestillt! Oh, ich möchte seine Sinnes-
    täuschungen auch haben!
    — 289 —
    Wird der Unglückliche ebenso enden, wie der Neger
    Jynxtrop, und sich zuletzt in die Fluten stürzen?
    Daoulas, Falsten und der Hochbootsmann müs-
    sen das erwartet haben, denn wenn er sich umbringen
    sollte, wollen sie es »nicht ohne Vorteil für sich« gesche-
    hen lassen! Sie erheben sich, sie folgen ihm, sie belauern
    ihn, und wenn Flaypol sich ins Meer stürzte, dieses Mal
    würden sie ihn den Haien aus den Zähnen reißen!
    Doch es sollte so nicht kommen. Im Verlauf seiner
    Halluzinationen ist Flaypol im letzten Stadium der
    Trunkenheit angelangt, so, als ob er sich durch die geis-
    tigen Getränke wirklich berauscht hätte, die er freigebig
    ausbot, und wie eine tote Masse stürzt er in einem Win-
    kel zusammen, um einem bleiernen Schlaf zu verfallen.
    52
    25. Januar. – Die Nacht vom 24. zum 25. war dunstig,
    ich weiß nicht aus welchem Grund eine der schwüls-
    ten, und der Nebel wahrhaft erstickend. Man sollte mei-
    nen, daß ein Funke reichen müßte, die Luft wie einen
    explosiven Körper zu entzünden und den ganzen Welt-
    raum in Brand zu setzen. Das Floß bewegt sich nicht
    nur nicht fort, sondern unterliegt sogar überhaupt kei-
    nerlei Bewegung, so daß ich mich manchmal frage, ob
    es denn noch schwimme.
    Während dieser Nacht versuchte ich zu zählen, wie
    — 290 —
    viel wir noch sind. Es scheint mir, als ob wir noch elf
    Personen wären, aber ich habe Mühe, die nötigen Ge-
    danken zu dieser Zählung zu sammeln. Einmal finde
    ich zehn, das andere Mal zwölf. Wir müssen wohl elf
    sein, da der Neger Jynxtrop umgekommen ist. Morgen
    können es nur noch zehn sein, denn bis dahin bin ich
    gestorben.
    Ich fühle es recht deutlich, daß ich mich dem Ende
    meiner Qualen nähere, denn mein ganzes vergangenes
    Leben zieht durch meine Erinnerung, und es ist mir
    vergönnt, mein Vaterland, meine Freunde, meine Fami-
    lie zum letzten Mal im Traum zu sehen!
    Gegen Morgen bin ich erwacht, wenn man die krank-
    hafte Betäubung, in der ich lag, noch Schlaf nennen darf.
    Gott verzeihe mir, doch ich denke nun ernstlich daran,
    diesem Zustand ein Ende zu machen! Diese Idee setzt
    sich in meinem Gehirn immer fester, und es gewährt
    mir eine Art Freude, mir zu sagen, daß meine Leiden ein
    Ende haben werden, sobald ich es will.
    Ich habe Robert Kurtis von meinem Entschluß in
    Kenntnis gesetzt und ihm davon mit einer ganz auffal-
    lenden Ruhe des Geistes gesprochen. Der Kapitän be-
    gnügt sich, mir durch ein zustimmendes Zeichen zu
    antworten. Dann aber sagt er:
    »Was mich betrifft, so werde ich mich nicht selbst tö-
    ten, das hieße meinen Posten verlassen, und das darf ich
    — 291 —
    nicht. Wenn der Tod mich nicht vor den anderen ereilt,
    werde ich bis zuletzt auf dem Floß ausharren!«
    Der Nebel dauert fort, wir schwimmen mitten in ei-
    ner weißgrauen Atmosphäre; man sieht fast die Wasser-
    fläche gar nicht mehr. Wie eine dichte Wolke erhebt sich
    der Dunst aus dem Ozean, aber man fühlt es recht gut,
    daß über ihm die Sonne brennt, die in kurzer Zeit all
    diesen Wasserdampf aufgesaugt haben wird.
    Gegen 7 Uhr glaube ich Vogelgeschrei über meinem
    Kopf zu vernehmen. Robert Kurtis, der aufmerksam
    lauscht, hört die Töne, die sich dreimal wiederholen,
    ebenfalls.
    Beim dritten Mal nähere ich mich ihm und höre, wie
    der Kapitän mit dumpfer Stimme murmelt:
    »Vögel!. . . aber dann . . . dann müßte ja das Land nah
    sein . . .!«
    Robert Kurtis glaubt also überhaupt noch an Land?
    Ich nicht mehr! Nein, es gibt keine Kontinente, keine
    Inseln mehr, und der
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