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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor
Autoren: Jules Verne
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sie
    es nicht sind.
    Meine Augen schweifen zu André, der einen Moment
    den Kopf wegwendet.
    Der unglückliche junge Mann! Sollte er es gewesen
    sein? Und wenn dem so ist, hat er sich die Folgen seiner
    Tat vergegenwärtigt?
    49
    20. bis 22. Januar. – Während der folgenden Tage ha-
    ben diejenigen, die an der schauderhaften Mahlzeit am
    18. Januar teilnahmen, nur wenig gelitten, da sie ihren
    Hunger und Durst gestillt hatten.
    Doch was Miss Herbey, André Letourneur, sein Vater
    und ich leiden, kann das eine Feder schildern? Sind wir
    — 281 —
    nicht zu bedauern, daß jene Reste verschwunden sind,
    und wenn einer von uns stirbt, werden wir dann auch
    noch zu widerstehen vermögen . . .?
    Der Hochbootsmann, Daoulas und die anderen ha-
    ben nun auch wieder Hunger bekommen und sehen uns
    mit verwirrten Blicken an. Betrachten sie uns als sichere
    Beute?
    In der Tat, worunter wir am meisten leiden, das ist
    nicht der Hunger, sondern der Durst. Gewiß, hätten
    wir zwischen einigen Tropfen Wasser und einem Stück
    Zwieback zu wählen, wir würden nicht im Zweifel sein.
    Von Schiffbrüchigen in denselben Verhältnissen wie
    wir ist das wiederholt ausgesprochen worden und ver-
    hält sich auch wirklich so. Man leidet unter dem Durst
    noch empfindlicher, als unter Hunger, und stirbt an je-
    nem schneller.
    Und, o abscheulicher Spott, rings um sich hat man
    das Wasser des Meeres, das dem Trinkwasser ja so ähn-
    lich sieht! Wiederholt habe ich versucht, einige Trop-
    fen davon zu trinken, aber es erzeugt mir einen unüber-
    windlichen Ekel und nur noch heftigeren Durst.
    Oh, das ist zuviel! Seit 22 Tagen haben wir nun das
    Schiff verlassen! Wer von uns kann sich noch einer Il-
    lusion für die Zukunft hingeben? Sind wir nicht ver-
    dammt, einer nach dem andern langsam hinzusterben,
    und das durch eine der schrecklichsten Todesarten?
    Ich fühle, wie sich mein Gehirn allmählich umnebelt.
    — 282 —
    Wie ein Wahnsinn erfaßt es mich, und ich habe Mühe,
    mich bei Verstand zu halten. Dieser Zustand erschreckt
    mich! Wohin wird er mich noch führen? Werde ich
    stark genug sein, meine Vernunft zu bewahren . . .?
    Ich bin wieder zu mir gekommen, nach wie viel Stun-
    den, vermag ich nicht zu sagen. Meine Stirn fand ich
    mit Kompressen bedeckt, die Miss Herbey sorgfältig
    mit Seewasser tränkte, doch ich fühle, daß ich nur noch
    kurze Zeit zu leben habe.
    Heute, am 22., spielt eine entsetzliche Szene. Der Ne-
    ger Jynxtrop, der plötzlich verrückt geworden ist, läuft
    heulend auf dem Floß umher. Robert Kurtis versucht
    ihn aufzuhalten, doch vergeblich. Er wirft sich auf uns,
    um uns zu zerfleischen, so daß wir Mühe haben, uns ge-
    gen die Angriffe dieses wilden Tieres zu wehren. Jynx-
    trop hat einen Hebebaum ergriffen, und wir können sei-
    nen Schlägen nur schwer ausweichen.
    Plötzlich wendet er sich, als flackere der Wahnsinn
    aufs neue auf, gegen sich selbst und zerreißt sich mit
    den eigenen Zähnen, zerkratzt sich mit den Nägeln und
    spritzt uns sein Blut ins Gesicht mit dem Ruf:
    »Da trinkt! Trinkt doch!«
    Dann stürzt er sich über die Brüstung, und ich höre
    seinen Körper ins Meer fallen.
    Der Hochbootsmann, Falsten und Daoulas eilen nach
    vorn, um den Körper womöglich zu erhaschen, aber sie

    — 283 —
    — 284 —
    sehen nur noch einen blutigen Kreis, in dessen Mitte
    sich die Haie herumtreiben.
    50
    22. und 23. Januar. – Nur elf sind wir noch an Bord,
    und mir erscheint es unmöglich, daß nicht jeden Tag
    ein neues Opfer hinzu käme. Das Ende des Dramas, es
    sei wie es will, kommt nun heran. Vor Ablauf einer Wo-
    che müssen wir entweder auf Land gestoßen oder von
    einem begegnenden Schiff aufgenommen worden sein,
    oder aber der letzte Überlebende der ›Chancellor‹ hat
    aufgehört, zu atmen.
    Am 23. hat sich das Aussehen des Himmels auffal-
    lend verändert und die Brise ist merklich stärker gewor-
    den. Der Wind ging im Lauf der Nacht nach Nordosten.
    Das Segel des Floßes hat sich wieder aufgebläht, und ein
    langes Kielwasser beweist uns, daß wir nicht unerheb-
    lich vorwärts treiben. Der Kapitän schätzt unsere Bewe-
    gung auf 3 Meilen in der Stunde.
    Robert Kurtis und Ingenieur Falsten geht es offen-
    bar noch am besten unter uns, und obwohl auch sie im
    höchsten Grad abgemagert erscheinen, ertragen sie doch
    alle Entbehrungen mit erstaunlicher Ausdauer. Wie sehr
    die arme Miss Herbey angegriffen ist, vermag ich gar
    nicht zu schildern. Sie ist nur noch ein Geist, aber
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