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Die Cassini-Division

Die Cassini-Division

Titel: Die Cassini-Division
Autoren: Ken MacLeod
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Aussehen.
    »Wussten Sie schon«, sagte sie, als wir Kaffee in
große und Tee in kleine Tassen einschenkten, »dass
das im alten System mal eine Vollzeitbeschäftigung
war?«
    »Was meinen Sie?«
    »Das Servieren von Getränken.«
    Das war mir nicht neu.
    »Tatsächlich?«, sagte ich. »Warum hat
man das getan? Hat es… den Leuten Spaß
gemacht?«
    »Nein«, erwiderte sie ernsthaft, »sie taten
das, um zu überleben.«
    Ich deutete auf ein Tablett mit Sandwiches. »Heißt
das, sie hatten nichts anderes zu essen?«
    »Nein, nein, ich wollte damit sagen…«
    Auf einmal lachte sie. »Sie ziehen mich doch auf,
oder?«
    »Ja«, sagte ich. »Dann wollen wir doch mal
sehen, ob wir das nicht besser hinkriegen als die Lohnsklaven,
was meinen Sie?«
    Als wir die anderen Fahrgäste bedient hatten, holten wir
unsere eigenen Tabletts. Da Suze ebenfalls allein reiste, lud ich
sie ein, sich neben mich zu setzen. Wir unterhielten uns beim
Essen.
    Es war unhöflich, Sitznachbarn nach ihrer
Beschäftigung und ihrem Reiseziel zu fragen. Man musste
Umschweife machen und sich seine Neugier verkneifen, wenn sie
nicht von selbst darauf zu sprechen kamen.
    »Weshalb haben Sie gerade eben die Bemerkung über
das alte System gemacht?«, fragte ich.
    »Gegenwärtig bin ich Soziologin«,
erklärte Suze.
    Ich durchforschte mein Gedächtnis nach dem ungewohnten
Wort.
    »Dann erforschen Sie die Gesellschaft?«
    Sie nickte. »Ja, bloß gibt es nicht mehr viel zu
erforschen.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Schauen Sie sich doch mal um.« Sie schwenkte die
Hand. »Wenn man heutzutage die Gesellschaft erforschen
will, was findet man da?«
    Die Frage war rhetorisch gemeint, doch ich war aufrichtig
gespannt auf die Antwort.
    »Es ist alles so offensichtlich, so
transparent«, fuhr sie fort. »Vom Alter von fünf
Jahren an wissen wir, wie alles funktioniert. Es gibt einfach
keine Geheimnisse mehr. Hinter den Kulissen ist nichts mehr
verborgen, weil es keine Kulissen mehr gibt, verstehen
Sie?«
    »Ja, sicher«, sagte ich und dachte: Ha! Was
weißt du schon, Mädchen! »Und welche
Gesellschaft erforschen Sie dann, wenn nicht Ihre
eigene?«
    »Ich erforsche das alte System«, antwortete Suze,
»und dabei erfahre ich interessante Dinge. Manchmal muss
ich einfach mit anderen Leuten darüber reden. Außerdem
lassen sich so Gespräche anknüpfen.«
    Ich schnaubte. »Ja, ein prima Trick«, sagte ich.
»Man kann über fast alles, was man tut, mit anderen
reden. Wussten… Sie… dass die Menschen zu Zeiten
der Lohnarbeit tagtäglich dieser Beschäftigung
nachgehen mussten, wenn sie nicht verhungern
wollten?«
    Sie lachte über meinen ironischen Tonfall und meine
großen Augen. Anschließend wetteiferten wir darum,
eine Beschäftigung zu finden, auf die diese Behauptung nicht
zutraf, doch unser Einfallsreichtum und unsere dunklen Phantasien
reichten dazu nicht aus.
    »Wie dem auch sei«, meinte sie schließlich,
»jedenfalls ist es irgendwie faszinierend.« Sie
musterte mich, als wüsste sie nicht so recht weiter.
»Dem Kapitalismus war eine Art… Eleganz zu eigen.
Das Problem dabei ist, dass die alten Leute – bitte
verstehen Sie mich bitte nicht falsch! – die Vergangenheit
nicht sonderlich gut erklären können, weil sie sie so
gehasst haben, und die alten Bücher…« Sie
zuckte seufzend die Achseln. »Daraus wird man einfach nicht
schlau. Da stehen überall Gleichungen drin, als
wär’s reine Wissenschaft, aber sieht man sich die
Annahmen genauer an, dann denkt man, aber Moment mal, das kann
doch nicht stimmen, wie hat das bloß funktioniert?
Jedenfalls«, fuhr sie energischer fort, »ist das die
einzige interessante soziologische Frage, die noch unbeantwortet
ist.« Sie blickte aus dem Fenster, dann beugte sie sich vor
und senkte die Stimme. »Deshalb fliege ich nach
London«, vertraute sie mir an. »Um mit Menschen zu
sprechen, die nicht der Union angehören.«
    Daraufhin lehnte sie sich zurück und sah mich an, als
fürchtete sie, mich schockiert zu haben. Ich brauchte ihr
nichts vorzumachen – mein Interesse war nicht geheuchelt.
Natürlich hatten wir ein Netzwerk von Agenten und zahlreiche
Kontakte im Gebiet von London, und auf die alten Genossen war
stets Verlass – meine Mission aber war zu geheim, als dass
ich Suze hätte einweihen können. Niemand wusste von
meiner Ankunft und von meinen Absichten, doch es würde sich
nicht langer vermeiden lassen, dass Informationen
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