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Die Buecher und das Paradies

Titel: Die Buecher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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war, um sich dem Kaiser entgegenzustellen. So traf ich eine Reihe fast instinktiver Entscheidungen: einen Friedrich Barbarossa jenseits der traditionellen Klischees zu zeigen, eher aus der Sicht eines Sohnes als aus der seiner Gegner und seiner Höflinge (also weg mit vielen Barbarossabildern in unseren Geschichtsbüchern), die Anfänge meiner Heimatstadt zu erzählen, mitsamt ihren Legenden, zu denen auch die von Gaghaudo und seiner Kuh gehört. Jahre zuvor hatte ich einen Essay über die Gründung und Geschichte von Alessandria geschrieben (betitelt, welch ein Zufall, »Das Wunder von San Baudolino«) 8 , und so kam mir die Idee, die ganze
    Geschichte von einem Landsmann erleben zu lassen, der wie der Schutzheilige von Alessandria Baudolino heißt, ihn zum Sohn des Gagliaudo zu machen und dem Ganzen einen pikaresk-populären Tonfall zu geben - also eine Art Antistrophe zum Namen der Rose zu schaffen: dort eine Geschichte von Gelehrten, die sich gewählt ausdrückten, hier eine Geschichte von Bauern und Kriegern, die eher ungehobelt sind und fast Dialekt sprechen.
    Aber auch diesmal, wie vorgehen? Sollte ich Baudolino im pseudo-piemontesischen Dialekt eines 12. Jahrhunderts sprechen lassen, von dem wir nur sehr wenige volkssprachliche Dokumente haben und keines aus dem piemontesischen Raum? Sollte ich einen modernen Erzähler sprechen lassen, dessen Stil die Spontaneität Baudo-linos beeinträchtigt hätte? Hier kam mir eine weitere fixe Idee zu Hilfe, die mir seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte, ohne daß ich jemals gedacht hätte, sie bei dieser Gelegenheit verwenden zu können: eine Geschichte zu erzählen, die in Byzanz spielt. Warum? Weil ich sehr wenig von der byzantinischen Kultur wußte und noch nie in Konstantinopel gewesen war. Vielen mag das als ein sehr schwacher Grund erscheinen, um etwas erzählen zu wollen, was in Konstantinopel spielt, zumal Konstantinopel mit Friedrich Barbarossa nur sehr am Rande zu tun hatte. Aber manchmal entscheidet man sich für eine Geschichte nur, um sie besser kennenzulernen.
    Gesagt, getan. Ich fuhr nach Konstantinopel, las viel über das alte Byzanz, machte mich vertraut mit seiner Topographie und stieß auf Niketas Choniates mit seiner »chronologischen Erzählung« (Diegesis chronike) der byzantinischen Geschichte. 11 Ich hatte den Schlüssel gefunden, die Art und Weise, wie ich die »Stimmen« meiner Erzählung artikulieren konnte: Ein gleichsam gestaltloser Erzähler gibt das Gespräch zwischen Niketas und Baudolino wieder, läßt die gelehrten und höfischen Reflexionen des Byzantiners mit den pikaresken Erzählungen Baudolinos alternieren, so daß weder Niketas noch gar der Leser jemals begreifen kann, ob und wann Baudolino lügt, und das einzig Gesicherte ist, daß er behauptet, ein Lügner zu sein (Paradox des Lügners und des Kreters Epimenides).
    Damit hatte ich das Spiel der »Stimmen«, aber noch nicht die Stimme von Baudolino. Und hier widerlegte ich das zweite meiner Prinzipien. Einige Zeit vorher, während ich noch die Chroniken der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer las (und beschloß, diese Geschichte zu erzählen, die schon in den Texten von Villehardouin, Robert de Clary und Niketas so romanhaft klingt), hatte ich nebenbei, als Zeitvertreib auf dem Land, jene erste Schreibübung Baudolinos in einem hypothetischen Pidgin-Piemontesisch des 12. Jahrhunderts verfaßt, die jetzt den Roman eröffnet. Zwar habe ich diese Seiten in den folgenden Jahren immer wieder umgeschrieben, nach Konsultation historischer und Dialektwörterbücher und aller erreichbaren Dokumente, aber schon bei jener ersten Fassung war mir durch den Sprachstil klargeworden, wie ich Baudolino denken und reden lassen mußte. So ist letztlich Baudolinos Sprache nicht durch den Bau einer Welt entstanden, sondern der Reiz dieser Sprache hat zum Bau einer Welt geführt.
    Ich weiß nicht, wie ich diese Umkehrung theoretisch erklären soll. Mir bliebe nichts anderes übrig, als Walt Whitman zu zitieren: »Ich widerspreche mir? Wohlan, ich widerspreche mir.« Wäre da nicht der Umstand, daß mich - vermutlich - der Rückgriff auf dialektale Sprachmuster in meine Kindheit und meine Geburtsstadt zurückgeführt hat, also in eine bereits präkonstituierte Welt, zumindest in der Erinnerung.
Zwänge und Zeitstruktur
    Allerdings, ob nun Welt zur Sprache oder Sprache zur Welt führt, man verbringt nicht zwei bis drei Jahre damit, eine Welt zu errichten, als existierte diese Welt nur für
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