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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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Land, aber da ich jede Person, die dort lebte, verehrte und bewunderte, zog ich diesen Ort jedem anderen auf der Welt vor.
    In den Monaten nach Auroras Flucht aus North Carolinaereigneten sich bei Joyce einige merkwürdige Dinge. Da mir das Haus immer offen stand, war ich in der Lage, diese Dramen aus nächster Nähe mitzuerleben, und erlebte eine Überraschung nach der anderen. Bei Lucy zum Beispiel war plötzlich mit allem zu rechnen. Während ihrer Zeit bei Tom und Honey war ich ständig auf Schwierigkeiten gefasst und entsprechend besorgt gewesen. Sie hatte nicht nur damit gedroht, das «schlechteste, gemeinste, allerböseste kleine Mädchen auf Gottes Erdboden» zu werden, sondern es schien mir auch unausweichlich, dass die fortgesetzte Abwesenheit ihrer Mutter sie doch irgendwann zermürben und zu einem griesgrämigen, finsteren, immer schlecht gelaunten Kind machen musste. Aber nein. Sie war in der Wohnung über Harrys ehemaligem Laden geradezu aufgeblüht und hatte sich mit bemerkenswertem Tempo immer besser auf ihre neue Umgebung eingestellt. Als ich Rory nach Brooklyn brachte, hatte Lucy ihren Südstaatenakzent abgelegt, war mindestens zehn Zentimeter gewachsen und eine der Besten in ihrer Klasse. Gewiss, sie hatte nachts oft nach ihrer Mutter gerufen, und jetzt, da ihre Mutter wieder bei ihr war, hätte man meinen können, unser Mädchen habe keine Wünsche mehr offen. Wiederum nein. Unmittelbar nach dem Wiedersehen war die Kleine vor Glück schier aus dem Häuschen, aber nach einer Weile traten alte Verstimmungen und Feindseligkeiten zutage, und schon nach einem Monat war unsere kluge, energische, witzige Kleine zu einer unausstehlichen Nervensäge geworden. Türen knallten; höfliche Bitten stießen auf beißenden Hohn; aggressives Geschrei schallte aus der zweiten Etage; Genörgel wurde zu Schmollen, Schmollen zu Wutausbrüchen, Wutausbrüche wurden zu Tränen; die Worte
Nein, doof, sei endlich still
und
Kümmer dich um deinen eigenen Mist
wurden zum wesentlichen Bestandteil des täglichenGesprächs. Allen anderen gegenüber blieb Lucys Verhalten unverändert. Nur ihre Mutter war diesen Attacken ausgesetzt, und mit der Zeit wurden sie immer unerbittlicher.
    So demoralisierend das für die zartbesaitete Aurora auch sein mochte, sah ich in diesem Verhalten einen notwendigen Reinigungsprozess, einen Hinweis darauf, dass Lucy um ihr Leben kämpfte. Liebe war dabei kein Thema. Lucy liebte ihre Mutter, und doch hatte diese geliebte Mutter sie eines hektischen, verrückten Nachmittags in einen Bus gesetzt und nach New York verfrachtet, und danach war das Kind sechs Monate lang sich selbst überlassen gewesen. Wie kann ein so junger Mensch eine so verwirrende Wendung hinnehmen, ohne sich nicht zumindest teilweise daran mitschuldig zu fühlen? Warum sollte die Mutter das Kind abschieben, wenn es nicht schlecht war, ein Geschöpf, das die Liebe seiner Mutter nicht verdient hatte? Ohne eigenes Verschulden hatte die Mutter der Seele ihrer Tochter eine klaffende Wunde zugefügt, und wie kann diese Wunde jemals heilen, wenn die Tochter nicht aus Leibeskräften in alle Welt hinausschreit: Ich habe Schmerzen; ich halte das nicht mehr aus; hilf mir? In dem Haus wäre es gewiss friedlicher zugegangen, wenn Lucy den Mund gehalten hätte, aber diesen Schrei in sich zu verschließen würde ihr auf Dauer unendlich geschadet haben. Sie musste das rauslassen. Nur so konnte die Blutung gestillt werden.
    Ich bemühte mich, Aurora so oft zu sehen wie möglich, vor allem in diesen schwierigen ersten Monaten, als sie mühsam wieder Tritt zu fassen suchte. Die Schrecken von North Carolina hatten sie fürs Leben gezeichnet, und uns beiden war klar, dass sie sich nie mehr ganz davon erholen würde, dass die Vergangenheit immer bei ihr bleibenwürde, ganz gleich, wie gut es ihr gelingen mochte, künftig mit ihrem Leben zurechtzukommen. Ich bot ihr an, ihr regelmäßige Sitzungen bei einem Therapeuten zu bezahlen, falls sie glaube, dass ihr das helfen könne, aber sie lehnte ab und sagte, ihr liege mehr daran, mit mir zu reden. Mit mir. Ich, der verbitterte Einzelgänger, der vor nicht einmal einem Jahr nach Brooklyn zurückgekrochen war; der Ausgebrannte, der sich davon überzeugt hatte, dass es nichts mehr gab, für das er noch leben wollte – ich, der Schwachkopf, Nathan der Unweise, dem nichts Besseres mehr einfiel, als still auf den Tod zu warten, war plötzlich ein Vertrauter und Berater geworden, ein Liebhaber lustiger Witwen
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