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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee
Autoren: Jan Seghers
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unterwegs war, hat einen Leichenfund gemeldet. Mehr wissen auch die Kollegen dort noch nicht. Sie haben sich auf den Weg gemacht, aber ich habe sie gebeten, nichts anzurühren, bis wir da sind.»
    Auf der Fahrt wechselten sie kein Wort. Es gab nichts zu reden. Jeder Satz, den sie hätten sagen können, wäre ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit gewesen. Marthaler ertappte sich dabei, wie er immer wieder stumm betete, der Mensch, den man dort gefunden hatte, möge nicht seine Kollegin Kerstin Henschel sein. Aber er wusste auch, dass es wenig Hoffnung gab. Es sprach alles dafür, dass der Mörder zwar seinen Zeitplan, nicht aber seinen Plan geändert hatte.
    Als sie sich dem Waldrand näherten, sahen sie bereits die Streifenwagen. Wie den Tag zuvor stellten sie ihr Auto aufdem Parkplatz zwischen den Bäumen ab und überquerten die Straße zu Fuß. Die uniformierten Polizisten, die das Gelände sicherten, nickten stumm.
    Der Leiter der Usinger Polizeistation begrüßte sie mit Handschlag: «Wir haben weiträumig abgesperrt. Aber weil ihr nicht wolltet, dass wir zum Fundort gehen, haben wir auf euch gewartet.»
    «Gut», sagte Schilling. «Wo ist der Zeuge? Der Mann mit dem Hund, der die Leiche gefunden hat?»
    «Er ist noch immer bei uns auf der Wache. Er hat sich geweigert, noch einmal mit herzukommen. Er hat uns den Fundort genau beschrieben. Er sagt, die Leiche befinde sich etwa in der Mitte der Südseite. Sie sitze mit dem Oberkörper gegen die Felswand gelehnt.»
    Zu dritt stapften sie über den verschneiten Weg in Richtung der Klippen. Als sie sich den Felsen bis auf zwanzig Meter genähert hatten, hob Walter Schilling die Hand. «Ihr wartet bitte hier, bis ich euch rufe», sagte er.
    Er hatte seine kleine Digitalkamera hervorgeholt und machte die ersten Fotos. Dann verschwand er hinter der Steinwand, die dunkel aus dem Schnee aufragte.
    Marthaler schnaufte. Er stand auf der Stelle, hatte die Hände vor seinem Brustkorb verschränkt und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück. Er wartete.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er den Chef der Spurensicherung wieder auf sich zukommen sah. Bevor er den Gesichtsausdruck Walter Schillings noch deuten konnte, wandte er sich ab. In seinen Eingeweiden rumorte es. Er hastete zwischen ein paar Bäume. Im nächsten Moment musste er sich übergeben.
    Dann drehte er sich wieder in Schillings Richtung. Der kam mit ernstem Blick auf ihn zu. Aber er schüttelte den Kopf. «Es ist nicht Kerstin», sagte er, «komm bitte mit.»
    Marthaler entließ die Luft aus seinen Lungen. Für einen Moment fürchtete er, vor Erleichterung ohnmächtig zu werden.
    Dann sah er die starre Gestalt am Felsen sitzen. Sie war mit Schnee bedeckt und erinnerte Marthaler an die Fotos der Erfrorenen, die er in einem Bildband über die Schlacht um Stalingrad gesehen hatte. Selbst die Haare und das Gesicht waren unter einer weißen Kruste verborgen.
    Schilling hatte Handschuhe an. Er beugte sich zu der Leiche hinab und befreite sie nach und nach vom Schnee. Er begann bei den Füßen. Sie waren nackt. Es waren die Füße eines Mannes. Seine Hose war bis zu den Knien hochgekrempelt. Der linke Arm lag in seinem Schoß, der rechte war zwischen Rücken und Felswand verborgen. Neben dem Toten stand in einiger Entfernung ein Paar halbhohe Winterschuhe. Nach und nach arbeitete sich Schilling bis zum Kopf des Leichnams vor. Er zog seine Handschuhe aus, dann rieb er das Gesicht des Toten mit seinen warmen Händen ab. Schließlich trat er einen Schritt zurück.
    «Mein Gott», sagte Marthaler.
    Schilling nickte. «Es ist Toller.»
    Für eine halbe Minute schaute Marthaler in das erstarrte Gesicht seines toten Kollegen. Tollers Augen waren geschlossen. In seinen Brauen und Wimpern hing vereister Schnee. Dann senkte Marthaler den Blick und sah, dass neben der Leiche eine leere Flasche auf dem Boden lag. Auf dem Etikett konnte man erkennen, dass sie einen hochprozentigen Rum enthalten hatte.
    «Meinst du, er hat sich selbst   …»
    «Das dachte ich zuerst auch, aber so war es nicht. Ich dachte, er hat sich nach dieser alten Methode das Leben genommen: Man zieht sich Schuhe und Strümpfe aus. Man nimmt ein paar Schlaftabletten, dann setzt man sich in die Kälte undbetrinkt sich. Man schläft ein und erfriert. Angeblich soll es eine der angenehmsten Methoden sein – wenn man davon überhaupt sprechen darf.»
    «Was soll das heißen: So war es nicht. Warum sagst du das?»
    «Schau! Es gibt Spuren von drei
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