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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste
Autoren: Wolfgang Schorlau
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westdeutsche, amerikanische
     und englische Wirtschaftsleute, die ganz andere Pläne verfolgten. Sie wollten sich selbst die Fabriken aneignen, die Grundstücke,
     die Arbeitsplätze und nicht zuletzt die Märkte. In der Vizepräsidentin fanden sie ihre ideale Vertreterin. Kennen Sie die
     Dame?«
    Dengler schüttelte den Kopf.
    Stein sagte: »Die Verwandlung von Gemeineigentum in privates Eigentum ist ihre große Spezialität. Zwölf lange Jahre war sie
     Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachsen und verscherbelte in dieser Zeit alles, was nicht niet- und nagelfest war:
     Verkehrsbetriebe, Stadthallen, Museen, Schwimmbäder und die Müllabfuhr – alles stand auf ihrer Verkaufsliste. In ihrer Amtszeit
     stieg die Verschuldung Niedersachsens dennoch um das Fünffache auf vierzig Milliarden Mark. Gleichzeitig sank das Einkommen
     der Bürger dieses Bundeslandes 10 Prozent unter den Bundesdurchschnitt. Können Sie sich vorstellen, was wir erwarteten, als
     diese Frau Chefin wurde?«
    Stein bebte vor Empörung. Christiane nahm seine Hand in die ihre.
    Aber er ließ sich nicht mehr unterbrechen: »Es war überhaupt ein Fehler, das Eigentum der DDR in einer Institution zu vereinen
     – ein schwerer Fehler der Regierung Modrow.Denn – sich einer Behörde zu bemächtigen, das ist doch für die westlichen Industrieleute eine der leichtesten Aufgaben. Kinderleicht.
     Die Stalinisten konnten aber gar nicht anders denken, als zentral alles zu lenken. Selbst als klar war, dass ihre Tage gezählt
     waren, gaben sie das Besitztum nicht an die Gesellschaft zurück. Warum gaben sie das Eigentum nicht direkt an die Beschäftigten
     in den vielen neu gegründeten GmbHs? Sie kamen nicht einmal auf die Idee! Diese dummen Tröpfe! Sie servierten dem Westen das
     Eigentum der DDR-Bürger auf dem silbernen Tablett.
    Nach dem Tod des Präsidenten wurde alles anders. Der schlimmste Fall trat ein: Rohwedders Stellvertreterin übernahm das Ruder.
     Einen Tag nach seinem Tod veröffentlichte die Treuhand ein Testament des erschossenen Präsidenten unter der Überschrift: Privatisierung
     ist die beste Sanierung. Und alles wurde verkauft, geschlossen; die großen und die kleinen Haie, die eben noch mühevoll im
     Zaum gehalten wurden, stürzten sich auf das, was ihnen nicht gehörte.«
    »Die Blaue Liste«, sagte Dengler, »was hat es mit dieser Liste auf sich?«
    Stein starrte ihn an. Er sah erschöpft aus. Er strich mit einer müden Geste eine Strähne aus der Stirn. Er sagte: »Ich war
     mit dem Präsidenten einig, dass wir unser kleines Modell ausprobieren wollten. Nur in dreißig Betrieben. In Unternehmen, die
     schwierig dastanden. Wir wollten es probieren. Und es hätte geklappt. In der Blauen Liste standen die Informationen und Adressen
     von dreißig Firmen, die den Beschäftigten übergeben werden sollten.«
    »Es hätte geklappt«, wiederholte er, »alles wäre anders verlaufen.«
    Christiane stand auf und ging ins Nebenzimmer. Dengler folgte ihr, und bald schliefen sie alle drei.
    * * *
    Als sie am nächsten Tag beim Frühstück saßen, fragte Christiane ihren Vater: »Warum habt ihr euch eigentlich in Bangkok getroffen?«
    »Professor Anders arbeitete dort. Nach dem Attentat auf Rohwedder änderte seine Nachfolgerin sofort die Politik der Treuhandanstalt.
     Für Deutschland war dieser Wechsel wichtiger als ein Regierungswechsel durch eine Bundestagswahl. Ich arbeitete in der Grundsatzabteilung,
     zusammen mit einem Studenten aus Innsbruck, der mein Assistent war. Wir mussten uns beraten, wie wir weiterarbeiten könnten
     – unser Konzept hatte nun kaum Aussicht auf Erfolg. Deshalb flog ich nach Bangkok, wo der Institutsleiter sich aufhielt. Es
     war eine schwierige Beratung. Wir beschlossen, uns an die deutschen Bischöfe zu wenden und, falls das nichts nutzte, auch
     an die Öffentlichkeit. Wir wollten auf den dreißig Betrieben der Blauen Liste bestehen.«
    Er sah Christiane nachdenklich an.
    Er sagte: »Erst auf dem Flughafen in Bangkok wurde mir klar, wie gefährlich dieses Projekt war. Ich glaubte keine Sekunde
     an einen Unfall. Nur durch den überhöflichen Tuk-Tuk-Fahrer blieb ich am Leben. Niemand durfte je erfahren, dass ich dem Inferno
     entkam – deine Mutter nicht und du auch nicht.«
    »Doch nun scheint es sich herumgesprochen zu haben«, sagte Dengler.
    »Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass Hans-Jörg etwas damit zu tun haben soll«, sagte Christiane.
    »Wir werden es bald wissen«, sagte
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