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Die Bibliothek

Die Bibliothek

Titel: Die Bibliothek
Autoren: Umberto Eco
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Erfahrungen denken muß, Erfahrungen in seiner Jugend oder in späteren Jahren mit langen Kor-ridoren und langgezogenen Sälen. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, ob die nach dem Bild und Modell des Universums gestaltete Bibliothek von Babel nicht auch nach dem Bild und Modell vieler möglicher Bibliotheken gestaltet ist. Und ich frage mich, ob es möglich ist, über die Gegenwart oder die Zukunft der existierende Bibliotheken zu sprechen, indem man reine Phantasiemodelle ersinnt. Ich glaube ja.
    Eine Übung zum Beispiel, die ich verschiedentlich gemacht habe, um die Funktionsweise eines Codes zu erklären, betraf zunächst einen sehr elementaren vier-stelligen Code zur Lokalisierung von Büchern in einer Bibliothek, in dem die erste Stelle den Saal bezeichnet, die zweite die Wand, die dritte das Regal an der Wand und die vierte den Ort des Buches im Regal, so daß eine Signatur wie 3-4-8-6 bedeutet: dritter Saal vom Eingang, vierte Wand links, achtes Regal, sechster Platz.
    Dann aber merkte ich, daß man auch mit einem so elementaren Code (er ist nicht der Dewey) sehr interes-sante Spiele machen kann. Zum Beispiel kann man 3335·3335·3335·3335 schreiben, und schon ergibt sich das Bild einer Bibliothek mit einer immensen Anzahl von Räumen: Jeder Raum hat eine polygonale Form,
    * Vgl. Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, Band 3/I, Hanser 1981
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    mehr oder minder wie ein Bienenauge, denn er kann mehr als 3000 oder gar 33 000 Wände haben, und er unterliegt nicht der Schwerkraft, denn die Regale können sich auch an den oberen Wänden befinden, und jede dieser mehr als 33 000 Wände ist riesig, denn sie kann mindestens 33 000 Regale aufnehmen, und jedes davon ist unglaublich lang, denn es kann mehr als 33 000 Bücher fassen.
    Ist dies eine mögliche Bibliothek, oder gehört sie nur in ein Phantasie-Universum? Jedenfalls erlaubt auch ein schlichter Code, der für eine Hausbibliothek er-dacht worden ist, solche Variationen oder Projektionen und sogar den Gedanken an polygonale Bibliotheken.
    Ich schicke dies voraus, weil ich, als ich mir überlegte, was man über Bibliotheken sagen kann, zunächst die gewissen oder Ungewissen Funktionen einer Bibliothek zu bestimmen versuchte. Zu diesem Zweck inspizierte ich kurz die Bibliotheken, zu denen ich Zugang hatte, da sie auch nachts geöffnet sind - nämlich die des Assurbanipal in Ninive, die des Polykrates auf Samos, die des Peisistratos in Athen, die von Alexandria (die schon im dritten Jahrhundert v.Chr. 400000 Bände enthielt und dann im ersten, mit der des Serapeions, 700000 Bände umfaßte), schließlich die Bibliothek von Pergamon und die des Augustus (zur Zeit Kaiser Konstantins gab es 28 Bibliotheken in Rom). Ferner habe ich eine gewisse Vertrautheit mit einigen benediktini-schen Klosterbibliotheken, und so begann ich mich zu fragen, worin eigentlich die Aufgabe einer Bibliothek besteht.
    Anfangs, in den Zeiten des Assurbanipal oder des Polykrates, war es wohl nur das einfache Unterbringen 11

    der Schriftrollen oder Bände, damit sie nicht in der Ge-gend herumlagen. Später, denke ich, kam dann das Sammeln und Hüten hinzu, denn schließlich waren die Rollen teuer. Noch später, zu Zeiten der Benediktiner, war es auch das Kopieren - die Bibliothek sozusa-gen als Durchgangszone: das Buch trifft ein, wird ab-geschrieben, das Original oder die Kopie verläßt sie wieder.
    Zu manchen Zeiten, vielleicht schon zwischen Augustus und Konstantin, war die Aufgabe einer Bibliothek sicher auch das Bereitstellen ihrer Bücher zum Lesen, also mehr oder weniger das, was die schöne Re-solution der UNESCO besagt, in der es heißt, es sei einer der Zwecke von Bibliotheken, dem Publikum das Lesen zu ermöglichen.
    Später sind dann aber Bibliotheken entstanden, die eher den Zweck verfolgten, das Lesen nicht zu ermöglichen, die Bücher unter Verschluß zu halten, sie zu ver-bergen. Allerdings waren diese Bibliotheken auch so beschaffen, daß man Funde in ihnen machten konnte.
    Wir staunen immer wieder über die Fähigkeit der Humanisten des 15. Jahrhunderts, verschollene Handschriften wiederzufinden. Wo fanden sie sie? In Bibliotheken. In Bibliotheken, die teilweise zum Verbergen dienten, aber auch zum Bewahren und damit zum Fundemachen.

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    ngesichts dieser Aufgabenvielfalt einer Biblio-A thek erlaube ich mir nun, ein Negativmodell aufzustellen, das Modell einer schlechten Bibliothek in 19
    Punkten. Natürlich ist es ein fiktives Modell wie das der polygonalen
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