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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Autoren: Alexander Pechmann
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Reisender, Gepäckträger, Schaffner und Verkäufer, auf den Zug nach Lausanne, der sich wieder einmal aus ungewissen Gründen verspätete.
       Inmitten des alltäglichen Gedränges stand eine unauffällige, einsame Gestalt. Ein Mann, nicht klein, nicht groß, in einen schäbigen, abgewetzten Mantel gekleidet, kaum zu unterscheiden von den wartenden Passagieren. Doch er vertrieb sich die Zeit nicht mit müßigen Träumereien. Sein aufmerksamer Blick schweifte umher, registrierte fachmännisch jedes Detail, jede Bewegung und fiel schließlich auf eine offensichtlich allein reisende junge Dame und ihre prall gefüllte Ledertasche.
       Hadley bemerkte nichts davon. Sie hatte Mühe, die schwere Tasche mit all den Manuskripten zu heben. Ihre Hoffnung auf den zukünftigen Ruhm Hemingways verlieh dem Papier, das mit seinen Worten beschrieben war, vielleicht ein zusätzliches Gewicht. Ein Ausrufer kündigte eine weitere Verspätung des Zuges an, und Hadley stellte seufzend das unhandliche Gepäck zurück auf den Bahnsteig. Sie ging ein paar Schritte auf und ab und hielt nach dem Jungen Ausschau, der die Wartenden mit heißem Tee und Kaffee versorgte. Sie wollte die Reisetasche nehmen und einen Sitzplatz suchen – doch die Tasche war fort und der Mann in dem schäbigen, abgewetzten Mantel nirgendwo zu sehen.
       Als Hadley in Lausanne eintraf, weinte sie unablässig. Wie sollte sie ihrem Mann bloß erklären, dass seine wertvollen Manuskripte gestohlen worden waren? Hemingway ahnte das Schlimmste. Als er endlich begriff, was wirklich geschehen war, wurde er totenbleich. Dann krebsrot. Die Augen waren die eines durchbohrten Stiers im Todeskampf. Ein letzter Wille, den Torero doch noch in den Staub der Arena zu trampeln. Dann Dunkelheit. Hemingway wandte sich ab, ging in die nächste Bar und genehmigte sich ein paar Drinks. So ähnlich muss es sich zugetragen haben.
       Später berichtete Hemingway mit einiger Gelassenheit von dem Zwischenfall und behauptete sogar, der Verlust sei letztlich gut für ihn gewesen. Er hatte inzwischen seinen Stil verfeinert und sich in der Kunst des Weglassens geübt. Er hatte begriffen, dass das Ungesagte oft eine größere Wirkung erzielt als weitschweifige Erläuterungen. Die Beschäftigung mit seinen frühen Versuchen wäre vielleicht ein Hindernis auf dem Weg zu dieser befreienden Erkenntnis gewesen.
       Doch der Verlust jener Arbeiten war zunächst ein schwerer Schlag. Hemingway hatte gehofft, in Paris eine schriftstellerische Laufbahn beginnen zu können, die er mit seinen journalistischen Aufträgen finanzieren wollte. Das Schreiben von Zeitungsartikeln hielt er freilich für eine Plage. »Das gottverdammte Zeitungszeug bringt mich allmählich um«, gestand er seinem Freund Sherwood Anderson. Seine Depeschen brachten ihm zudem kaum etwas ein, und nun waren auch seine literarischen Versuche verloren! Er dachte schon daran, die Schriftstellerei aufzugeben und sich zum Chirurgen ausbilden zu lassen. Schließlich fing er einfach von vorn an. Sein erstes Buch »Three Stories and Ten Poems« erschien 1923, wenige Monate nach dem Verlust der alten Manuskripte.
       Nur zwei Kurzgeschichten des Frühwerks sind erhalten: »My Old Man« (»Mein Alter«), eine Geschichte, die Hemingway vor der Reise nach Lausanne an den Herausgeber Edward O’Brien geschickt hatte, erschien bereits 1922 in dem Sammelband »Best Short Stories«. Sie handelt von dem tragischen Ende eines alten Jockeys während eines Pferderennens in Paris, erzählt aus der Sicht seines Sohnes. Die zweite Geschichte, »Up in Michigan« (»Oben in Michigan«), war in einer Schublade zurückgeblieben, da sie Gertrude Stein für »inaccrochable«, also »unaufhängbar« hielt – »wie ein Bild, das ein Maler malt, das er aber dann nicht aufhängen kann, wenn er eine Ausstellung hat«. Hemingway hatte schon als kleiner Junge die Ferien in Nordmichigan verbracht und kehrte immer wieder gern in seinen »Garten Eden« zurück. »Up in Michigan« ist allerdings ein überaus tristes Bezie hungsdrama, das in einem Vergewaltigungsversuch mündet.
       Jahre später, 1956, erinnerte sich Hemingway während eines Paris-Aufenthalts an zwei Koffer mit Manuskripten, die er 1928 im Hotel Ritz zurückgelassen hatte. 1944 war er als Kriegsberichterstatter an die Seine zurückgekehrt, hatte sich nach der Befreiung der Stadt angeblich als erster Amerikaner erneut im Ritz eingeschrieben, ohne freilich an die alten Manuskripte zu denken.
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