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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Autoren: Alexander Pechmann
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Chaos in unserer Bibliothek bin ich selbst. Zwar bin ich durchaus in der Lage, eine Bibliothek von einem Kuhstall und ein Buch von einer Mistgabel zu unterscheiden, doch verstehe ich kaum etwas von den Verwaltungswissenschaften, von wissenschaftlicher Systematik oder von der objektiven Bewertung von Büchern im Allgemeinen und literarischen Werken im Besonderen. Die Ordnungskriterien, die ich meiner Arbeit zugrunde lege, sind subjektiv. Soweit es mir gelungen ist, an einigen wenigen Stellen innerhalb der Bibliothek eine gewisse Ordnung herzustellen, muss man davon ausgehen, dass diese meinen eigenen Launen und Vorlieben entspricht, nicht aber dem Lehrbuch für angehende Bibliothekare oder dem Kanon der Literaturwissenschaftler.
       Wenn man den offensichtlichen Mangel an Syste matik einmal beiseitelässt, kann man jedoch grob das Wesen und die Eigenschaften jener Werke skizzieren, die in die Bibliothek der verlorenen Bücher bislang aufgenommen wurden. Es sind vor allem jene, die im Lauf der letzten Jahrhunderte durch Zufälle oder Unfälle, im Wahn, im Zorn oder mit kaltblütiger Absicht von Autoren, Verlegern, Erben, Anwälten, Pfaffen, Pädagogen, Tyrannen, Soldaten, Zensoren und Lesern vernichtet wurden, die Naturgewalten zum Opfer fielen, die an geheimen Orten versteckt oder in unverständlichen Sprachen und unentzifferbaren Schriften verfasst wurden, so dass sie von niemandem gelesen werden können. Die meisten dieser Werke sind für immer verloren, einige wurden unter merkwürdigen Umständen wiederentdeckt, andere konnten nach ihrer Vernichtung anhand erhaltener Notizen rekonstruiert werden. Zuweilen sind Name des Autors und Titel des Werkes überliefert, gelegentlich wissen wir auch etwas über den Inhalt, doch allzu oft gibt es keinerlei Informationen. Kein Name, kein Titel, kein Inhaltsverzeichnis, kein Entwurf, kein Exposé, kein Zeugnis, das Rückschlüsse auf ein verlorenes Werk zuließe. Diese Manuskripte, über die bislang überhaupt nichts bekannt oder überliefert ist, Werke, über die niemand jemals irgendetwas wusste oder in Erfahrung bringen konnte, machen den Großteil unseres Bestandes aus. Bis heute hat sich niemand systematisch mit diesen verlorenen Büchern beschäftigt. Sie haben in der Welt außerhalb unserer Bibliothek keinerlei Spuren hinterlassen.
       Die meisten Besucher fragen nicht nach den Dichtern des Schweigens, sondern nach den verlorenen Werken von namentlich bekannten Autoren wie Lord Byron, Charles Brockden Brown, Honoré de Balzac, Blaise Cendrars, James Fenimore Cooper, John Dee, Fjodor Dostojewski, Gustave Flaubert, Goethe, Ernest Hemingway, Homer, Robert E. Howard, James Joyce, Franz Kafka, T. E. Lawrence, Malcolm Lowry, Thomas Mann, Herman Melville, Prosper Mérimée, Alexander Puschkin, Sappho, Mary Shelley, Laurence Sterne und vielen anderen berühmten Vertretern der schreibenden Zunft. Ich bin gern behilflich, die Freunde jener Autoren zu den Regalen zu führen, in denen ihre verlorenen, vernichteten und ungeschriebenen Schriften aufbewahrt werden. Auch mich macht es glücklich, bei meinen langen Wanderungen durch die Bibliothek hin und wieder auf große Namen zu treffen. Andererseits interessiert mich weniger der Ruhm oder die Herkunft und Epoche eines Autors als die mannigfaltige Art und Weise der Umstände, unter denen bestimmte Werke verlorengingen, wieder auftauchten oder endgültig vernichtet wurden. Gern erzähle ich meinen Besuchern Geschichten über Bücher, die allen Eliminierungsversuchen trotzten, die neu geschrieben wurden oder die nur angeblich verloren waren, und oft bin ich in den Sälen der Bibliothek auf Manuskripte gestoßen, deren Existenz bislang in Zweifel gezogen wurde, die aber an diesem Ort eine Zuflucht gefunden haben. Andere Bücher, die aus unerfindlichen Gründen gelegentlich in unseren Re galen auftauchen, gehören keiner der obengenannten Kategorien an. Sie wurden möglicherweise von Besuchern zurückgelassen oder von meinen Kollegen und Vorgängern irrtümlich oder in boshafter Absicht an unpassender Stelle eingeordnet. Unter diesen von Fachkräften als »Kuckuckseier« bezeichneten Büchern finden sich viele vergessene Schätze, die deshalb als »verloren« bezeichnet werden können, weil niemand sich an sie erinnert oder weil sie an ihrem korrekten Platz im Regal unauffindbar sind.
       All diese Bücher haben Schicksale und Geheimnisse, die sie unabhängig von ihrem Inhalt zu etwas Besonderem, etwas Lebendigem machen. Ich, der
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