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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Autoren: Alexander Pechmann
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Unter-Unter-Bibliothekar, der Hüter des Schweigens, habe es zu meiner Aufgabe gemacht, ihre Geschichten zu sammeln. Und diese Geschichten, verehrte Besucher, sind die Orientierungspunkte, die ich Ihnen ans Herz legen möchte, bevor Sie zu eigenen Expeditionen aufbrechen. Es sind Inseln im unendlichen Büchermeer, die Sie als Häfen nutzen können, um entweder in bereits erschlossene Gebiete weiterzureisen oder einen abenteuerlicheren Kurs zu wählen, der in riskante, unerforschte Gewässer führt.
       Jene, denen meine Begrüßungsrede wirr und phantastisch erscheint, die mich einen Narren schimpfen und meine Kompetenz in Frage stellen, möchte ich auf einen Satz von Jorge Luis Borges verweisen, der als Inschrift über dem Eingang unserer Bibliothek angebracht ist: »Die bloße Möglichkeit eines Buches ist hinreichend für sein Dasein.«

    Malcolm Lowry und das weiße Meer

    » Ich sah nach den Möwen, hoch oben im Sonnenlicht. Das Licht der Sonne brauste über mir wie eine riesige unsichtbare See.« Mit diesen Worten beschrieb der junge, noch völlig unbekannte Autor Malcolm Lowry seinem Freund und Mentor Conrad Aiken die Eindrücke eines Spaziergangs am Ufer der Themse. Seine außergewöhnliche Art, einfache Dinge durch Sprache zum Leuchten zu bringen, erinnert nicht zufällig an die Prosa Herman Melvilles. Lowrys Vorbilder waren Entdecker metaphysischer Abgründe, die sich unter der scheinbar spiegelglatten Oberfläche der Wirklichkeit verbergen, und die riesige unsichtbare See hätte in seinem Werk sicherlich eine weitaus größere Rolle gespielt, wenn das Schicksal eines jeden Buches nicht auf irgendeine Art und Weise vorbestimmt wäre. Das war zumindest die Vorstellung Melvilles, dessen Seeroman »Redburn« Lowry mit Begeisterung gelesen hatte.
       »Redburn« schildert die erste Begegnung eines jungen Mannes mit der Welt der Seefahrer auf einer Reise von New York nach Liverpool und folgt dabei den Erfahrungen seines Autors. Seekrankheit, Sturm, die Schrecken und Schönheiten des Meeres, Feindschaften und Freundschaften an Bord, der langwierige Weg von der als Neuling verspotteten »Green Hand« zur selbstsicheren und salzwassergetränkten »Teerjacke« – ein Thema, das in der Literatur häufig aufgegriffen wurde. Conrad Aiken verarbeitete in »Blue Voyage« eine ähnlich schmerzliche Einführung in das Matrosenleben wie der Roman »Und das Schiff geht weiter« des heute vergessenen norwegischen Dramatikers Nordahl Grieg. Malcolm Lowry, der all diese Bücher kannte und liebte, vergiftete sich an der Idee der gleichzeitigen Initiation als Seemann und Schriftsteller und bat seinen Vater, nach dem Schulabschluss selbst in See stechen zu dürfen.
       Im Mai 1927 sahen schwitzende Liverpooler Hafenarbeiter und ausgemergelte Matrosen eine schwarze Limousine an dem Pier vorfahren, an dem der Frachter »Pyrrhus« vor Anker lag. Der Chauffeur öffnete die Tür, und dem Wagen entstieg der unbedarfte Sohn eines reichen englischen Kaufmanns, der sich in den Kopf gesetzt hatte, wie seine literarischen Helden eine Jungfernfahrt als einfacher Kabinenstewart zu absolvieren. Wie wenig die Erlebnisse der Reise und die Realität der Seefahrt mit den romantischen Vorstellungen seiner Jugend gemein hatten, beschrieb Malcolm Lowry später in seinem Debütroman »Ultramarin«.
       Dana Hilliot, Alter Ego des Autors, kämpft auf einem trostlosen, heruntergekommenen Frachtschiff mit Kurs auf Shanghai um die Aufmerksamkeit und Anerkennung seiner proletarischen Kameraden, die ihn nicht zu Unrecht für ein verwöhntes Bürschchen halten, das ehrlichen Matrosen den lebensnotwendigen Arbeitsplatz wegnimmt. Fatalerweise versucht der Neuling den Respekt der anderen durch übermäßigen Alkoholkonsum zu gewinnen. Das Einzige, was ihm dabei gelingt, ist, seine literaturgeschwängerten Illusionen über das Leben auf See nachhaltig zu zerstören. Hilliots Vereinsamung wird durch die Gegenüberstellung der lebhaften Unterhaltungen der Matrosen und seiner inneren Monologe verdeutlicht: »O Herrgott, sieh herab auf Deinen unwürdigen und ungewaschenen Diener, Hilliot, den Matrosen, den LiverpoolNorweger, dessen Knie beim Donner zusammenschlagen und dessen ekelerregende Hände beständig zittern in kraftlosem Gebet; o der Du aus dem grünen Mantel des stehenden Pfuhls meine Augen erschufst, der Du alles erschufst, die Schwachen und die Starken, die Sanftmütigen und die Grausamen, die Gerechten und die Ungerechten, erbarme Dich seiner
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