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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Autoren: Alexander Pechmann
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Dichtungen verfassten.
       Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares hatte unter der Vielzahl seiner imaginären Kollegen den besonderen Rang eines »Halbbruders« Pessoas und schrieb eifrig an seinen umfangreichen Aufzeichnungen, die er unter dem Titel »Das Buch der Unruhe« sammelte. Es ist ein zugleich bedrückendes und poetisches Werk, das sich in fünfhundert fragmentarischen Episoden zu einem Monument der Verlorenheit entwickelt. Soares hadert unablässig mit der Bedeutungslosigkeit seiner Existenz und der Nichtigkeit allen Strebens, doch scheint er Erlösung von seinem eintönigen Buchhalterdasein in der Sprache zu finden, die das absurde Nichts in Poesie verwandelt. Seine Erfüllung findet er nur in seinen Träumen und in einer eigenwilligen Philosophie, die seine Tatenlosigkeit, seine Langeweile und seinen Überdruss zur Kunstform erhebt. »Ich verspürte keinen Hang zum Wahrscheinlichen«, schrieb Pessoa unter seinem eigenen Namen, »eher zum Unglaublichen, zum Unmöglichen, nicht einmal zum teilweise Unmöglichen, sondern zum von Natur aus Unmöglichen.«
       Die wahre Gestalt und das Ausmaß des Gesamtwerks Pessoas und seiner zahlreichen Heteronyme blieben lange unbekannt. Erst nach Pessoas Tod, im Jahr 1935, wurde die unglaubliche Vielzahl der Stimmen offenbar, die sich durch ihn der Welt mitzuteilen versuchten. Als man in seiner Wohnung eine große Truhe mit Hunderten Manuskripten und 27543 teils unlesbaren Blättern entdeckte, ahnte man nicht, wie viele Dichter, Essayisten und Philosophen mit ihm gestorben waren.
       Fernando Pessoa definierte das Wesen des Genies einmal über dessen Unwillen, sich seiner Umgebung anzupassen, und dies sei auch der Grund, warum große Geister ihrer Umwelt oft unverständlich bleiben. Emily Dickinson, die heute als bedeutendste amerikanische Dichterin gilt, war zu ihren Lebzeiten beides – unangepasst und unverstanden. Sie wurde am 1o. Dezember 1830 in Amherst, Massachusetts, als Tochter eines angesehenen Anwalts geboren und starb am 15. Mai 1886 in ihrem Geburtshaus, das sie im Laufe ihres Lebens nur sehr selten verlassen hatte. In ihrer Jugend war sie lebhaft und gesellig, doch mit dreißig Jahren begann sie sich aus unbekannten Gründen in ihr Inneres zurückzuziehen, sie weigerte sich, auszugehen oder mit Fremden zu sprechen, und bewegte sich nur noch im engsten Familienkreis. Als sie älter wurde, trug sie nichts anderes als weiße Kleider und kommunizierte mit anderen fast ausschließlich über kryptische Notizen und Gedichtfragmente. Gleichzeitig führte sie eine umfangreiche und freimütige Korrespondenz – zum Teil mit ihr vollkommen unbekannten Personen wie dem Essayisten, Verleger und Literaturkritiker Thomas Wentworth Higginson. »Haben Sie zu viel zu tun, um mir zu sagen, ob meine Verse lebendig sind?«, schrieb sie Higginson. »Der Verstand ist sich selbst so nah – er kann nicht deutlich sehen – und ich habe niemanden, den ich fragen könnte.«
       Emily Dickinson schrieb jeden Tag ein Gedicht und versuchte ihre Werke auch zu veröffentlichen, doch ihre eigenwillige Poesie wurde von den meisten ihrer Zeitgenossen als unverständlich abgelehnt. Lediglich sieben Gedichte erschienen zu Lebzeiten, allesamt anonym und vom jeweiligen Herausgeber überarbeitet. Insgesamt umfasst das Werk dieser seltsamen Dame aus New England genau 1775 Gedichte, die erst nach ihrem Tod gefunden und erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts geordnet und veröffentlicht wurden. Ihr selbst war bewusst, dass ihre Gedichte ihr weder Anerkennung noch Erfolg, noch das Verständnis ihrer Mitmenschen einbringen würden. Sie schrieb, weil sie schreiben musste, weil dies ihre Art war, ihrem Dasein einen Sinn zu verleihen und ihren Gefühlen einen Ausdruck zu geben. Ihr Werk war »ein Brief an die Welt«, und sie wusste genau, dass die Welt nicht antworten würde.
       Emily Dickinson und Fernando Pessoa haben auf den ersten Blick nicht viel gemein, doch etwas verbindet sie: Beide scheinen so tief in die Welt der Sprache eingedrungen zu sein, dass ihr Leben und ihr Werk eins wurden und sie selbst sich in Wesen verwandelten, deren wirkliche Ziele rätselhaft bleiben. Sie verloren sich in ihren Schriften und Gedichten und dachten vielleicht gar nicht daran, dass sich jemand die Mühe machen würde, ihnen nachzuspüren, um sie in ihren Büchern wiederzufinden. Obwohl oder gerade weil sie sich nicht um Nachruhm, Erfolg, Anerkennung, ja meist nicht einmal um eine Veröffentlichung
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