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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Autoren: Alexander Pechmann
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nennt man die ausgemusterten Werke in regulären Büchereien »Löschbücher«. Diese werden eine Zeitlang im Katalog geführt, obwohl sie nicht mehr im Regal stehen, bevor sie endgültig »makuliert« werden.
    Fast täglich liest man in den Zeitungen von wieder
    gefundenen Werken und Manuskripten berühmter und weniger berühmter Autoren, die lange als verloren, gestohlen und verbrannt galten. Tatsächlich handelt es sich hierbei um makulierte Bücher unserer Bibliothek, die in unserem Auftrag unauffällig dorthin gebracht wurden, wo sie unweigerlich gefunden werden mussten. So wurde Truman Capotes 1940 geschriebener Roman »Summer Crossing« im Nachlass eines Mannes entdeckt, der eine Zeitlang die Villa des amerikanischen Autors gehütet hatte. Jules Vernes fortschrittskritischer Zukunftsroman »Paris au XXe siècle«, der seinem Lektor zu deprimierend erschien, tauchte nach hundert Jahren in einem alten Tresor des Verlagshauses wieder auf. Mary Shelleys »Maurice«, eine Erzählung, die wegen ihrer Kürze unveröffentlicht blieb und vergessen wurde, manifestierte sich in einem italienischen Archiv. Wilkie Collins’ Erstling »Iolani, or Tahiti as it was« aus dem Jahr 1846 – eine dramatische Abenteuer- und Liebesgeschichte, die unter den Ureinwohnern der Südsee spielt – war völlig unbekannt, bis er 1999 bei einer Versteigerung »zufällig« wieder auftauchte. H. D. Thoreaus umfangreiches Werk über die Pflanzenwelt seiner Heimat, »Wild Fruits«, wurde 2001 veröffentlicht, nachdem es angeblich
    150 Jahre in einer alten Reisekiste gelegen hatte. Nun raten Sie einmal, wer es in dieser Kiste versteckt hat?
       Neben all diesen erfreulichen Funden seien zwei Autoren erwähnt, deren Ruhm fast ausschließlich auf postum veröffentlichten Manuskripten beruht. Zu ihren Lebzeiten wussten nur wenige Eingeweihte von ihrer schriftstellerischen Existenz, und es ist wohl nur dem notorischen Platzmangel in unserer Bibliothek zu verdanken, dass sie schließlich doch einen Weg zu den Lesern fanden.
       Der Portugiese Fernando Pessoa lebte das unscheinbare Leben eines kleinen Angestellten in Lissabon, eines äußerlich unauffälligen Außenhandelskorrespondenten, der jeden Morgen pünktlich im Büro erschien. Insgeheim erfand er verschiedene Autoren mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Erfahrungen, Neigungen, Schreibstilen und Sprachen und erweckte sie zum Leben, indem er ihre Werke zu Papier brachte. Die Pseudonyme oder Doppelgänger Fernando Pessoas – er selbst bezeichnete sie als Heteronyme – verfassten ihre Texte unter Namen wie Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Alvaro de Campos oder Bernardo Soares und entwickelten im Laufe der Zeit ein unheimliches Eigenleben, was ihrem Schöpfer – wenn man ihn so nennen kann – ganz selbstverständlich vorkam.
       Fernando Pessoa wurde am 13. Juni 1888 in Lissabon geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters zog er mit seiner Mutter nach Südafrika, wo er seine Kindheit verbrachte. Er wuchs zweisprachig auf, fühlte sich im Englischen bald ebenso heimisch wie in seiner Muttersprache und zeigte ein lebhaftes Interesse an den Klassikern der englischen Literatur. Einsam war er nicht, denn ein Mensch mit solch außergewöhnlicher Einbildungskraft kann nicht einsam sein. Er schuf seine eigene Realität, wobei er nie sicher sein konnte, ob nicht er selbst die Fiktion war und seine Heteronyme real. Dieses Rätsel zu lösen erschien ihm nicht notwendig, denn es war seit jeher ein natürlicher Teil seines Lebens: »Seit meiner Kindheit gab es bei mir die Tendenz, um mich herum eine fiktive Welt zu schaffen, mich mit Freunden und Bekanntschaften zu umgeben, die nie existiert haben – selbstverständlich weiß ich nicht, ob sie nie wirklich existiert haben oder ob ich es bin, der nicht existiert.«
       Noch in Südafrika entstanden einige Essays und an Edgar Allan Poe orientierte Erzählungen, die ein Heteronym namens Alexander Search in englischer Sprache verfasste. Searchs Werke blieben jedoch ebenso unveröffentlicht wie jene seiner intellektuellen Gefährten Charles Robert Anon, H. M. F. Lecher und Chevalier de Pas, der mit dem jungen Pessoa einen regen Briefwechsel führte. Diese Gestalten verblassten in späteren Jahren. Als sich Pessoa 1905 endgültig in Lissabon niedergelassen hatte, wichen sie neuen Heteronymen, die sich zu einer eigenartigen unsichtbaren Familie zusammenfanden, Meinungen austauschten, über Poesie und Ästhetik diskutierten und ihre sehr individuellen
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