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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Autoren: Veronica Roth
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er.
    Ich höre auf zu ziehen und stelle mich kerzengerade hin. Ich weiß, dass ich jünger wirke, daran braucht er mich nicht zu erinnern. » Ich bin älter, als ich aussehe«, erkläre ich. » Ich bin sechzehn.«
    Er reißt den Mund auf und ein grauer Backenzahn mit einem dunklen Fleck an der Seite wird sichtbar. Ist das ein Lächeln oder schneidet er eine Grimasse? » Dann ist heute ein besonderer Tag für dich, was? Der Tag, bevor du dich entscheidest?«
    » Lassen Sie mich los«, sage ich. In meinen Ohren summt es. Meine Stimme klingt entschlossen und streng– ganz anders, als ich es erwartet hätte. Fast so, als wäre es nicht meine eigene.
    Ich bin bereit. Ich weiß, was ich tun werde. Ich stelle mir vor, wie ich ihm mit dem Ellbogen einen Stoß versetze. Ich sehe den Beutel mit den Apfelschnitzen zu Boden fallen, höre schon meine Schritte, als ich davonrenne. Ich bin bereit zu handeln.
    Doch da lässt er meine Hand los, nimmt die Äpfel und sagt: » Wähle klug, kleines Mädchen.«

4 . Kapitel
    Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich fünf Minuten früher als üblich in unsere Straße einbiege. Die Uhr ist der einzige Schmuck, den die Altruan tragen dürfen, und das auch nur, weil sie etwas Praktisches ist. Meine hat ein graues Armband und der Uhrendeckel ist aus Glas. Wenn ich sie im richtigen Winkel halte, sehe ich über dem Ziffernblatt mein Spiegelbild.
    Die Häuser in unserer Straße sehen alle gleich aus. Sie sind aus grauem Zement und haben nur wenige Fenster, sie sind schlicht, praktisch, unaufdringlich. In den Vorgärten wächst Hirse, die schmucklosen Briefkästen bestehen aus Metall. Manchen mag das trist vorkommen, aber auf mich wirkt diese Einfachheit beruhigend.
    Es ist ja nicht so, dass wir etwas Besonderes nicht zu schätzen wüssten, wie die anderen Fraktionen manchmal behaupten. Alles– unsere Häuser, unsere Kleider, die Art, wie wir unsere Haare tragen– soll uns helfen, uns selbst zu vergessen und uns vor Eitelkeit, Gier und Neid zu bewahren, alles drei Spielarten der Selbstsucht. Wenn wir wenig haben und wenig wollen, dann sind wir alle gleich und müssen niemanden beneiden.
    Ich gebe mir redlich Mühe, genau so zu sein.
    Zu Hause setze ich mich auf die Vordertreppe und warte auf Caleb. Es dauert nicht lange. Nach kaum einer Minute sehe ich grau gekleidete Gestalten die Straße entlangkommen. Ich höre sie lachen. In der Schule versuchen wir, keine Aufmerksamkeit zu erregen, aber sobald wir zu Hause sind, fangen wir an zu scherzen und zu necken. Was nicht heißt, dass mein Hang zum Sarkasmus gerne gesehen wird. Sarkasmus richtet sich immer gegen andere. Vermutlich ist es also wirklich besser, dass meine Fraktion mich dazu anhält, meine Zunge im Zaum zu halten. Ja, vielleicht muss ich meine Familie gar nicht verlassen. Wenn ich mich richtig anstrenge, selbstlos zu sein, vielleicht werde ich es dann auch.
    » Beatrice!«, ruft Caleb. » Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit dir?«
    » Mir geht’s gut.« Er ist mit Susan und ihrem Bruder Robert gekommen. Susan wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, als wäre ich auf einmal eine andere Person als noch heute Morgen. Achselzuckend sage ich: » Mir ist nach dem Test schlecht geworden. Lag sicher an der Flüssigkeit, die wir trinken mussten. Aber jetzt geht’s mir schon besser.«
    Ich versuche, überzeugend zu lächeln. Bei Susan und Robert scheine ich damit Erfolg zu haben, denn sie machen nicht länger den Eindruck, als sorgten sie sich um meinen Geisteszustand. Aber Caleb sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an, so wie er es immer tut, wenn er jemanden in Verdacht hat, nicht die Wahrheit zu sagen.
    » Seid ihr beiden heute mit dem Bus gefahren?«, frage ich. Es ist mir eigentlich egal, wie Susan und Robert von der Schule nach Hause kommen, aber ich will das Thema wechseln.
    » Vater muss heute länger arbeiten«, antwortet Susan. » Außerdem möchte er, dass wir vor der morgigen Zeremonie noch einmal in uns gehen.«
    Als sie von der Zeremonie spricht, macht mein Herz einen Satz.
    » Du kannst später gerne vorbeikommen, wenn du magst«, sagt Caleb höflich.
    » Vielen Dank«, sagt Susan und schenkt Caleb ein Lächeln.
    Robert zieht die Augenbrauen hoch und sieht mich, wie so oft in letzter Zeit, vielsagend an. Seit gut einem Jahr flirten Caleb und Susan so zaghaft miteinander, wie es nur zwei Altruan können. Caleb blickt Susan gedankenverloren hinterher, als sie weggeht. Ich packe ihn am Arm und rüttle ihn aus seiner
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