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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Autoren: Veronica Roth
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schlage vor, du gehst jetzt nach Hause«, sagt Tori. » Du musst jetzt viel nachdenken, und da tut es dir sicher nicht gut, noch länger zusammen mit den anderen zu warten.«
    » Ich muss meinem Bruder Bescheid sagen.«
    » Keine Sorge, das übernehme ich.«
    Ratlos reibe ich mir die Stirn. Beim Hinausgehen starre ich stur vor mich hin. Ich ertrage es nicht, Tori in die Augen zu sehen. Ich ertrage es nicht, an die Zeremonie der Bestimmung zu denken, die schon morgen stattfinden wird.
    Jetzt muss ich ganz allein entscheiden, ganz unabhängig von dem, was der Test besagt.
    Altruan. Ferox. Ken.
    Eine Unbestimmte.
    Ich beschließe, nicht mit dem Bus zu fahren. Wenn ich früher als sonst nach Hause komme, merkt es mein Vater, wenn er am Abend das Hausprotokoll liest, und dann wird er eine Erklärung von mir verlangen. Also gehe ich lieber zu Fuß. Ich muss Caleb abpassen, ehe er unseren Eltern etwas erzählt. Zum Glück ist Caleb verschwiegen.
    Ich laufe mitten auf der Straße, denn manchmal fahren die Busse haarscharf über die Bordsteinkante, deshalb ist es so sicherer. In der Nähe unseres Hauses sind noch an einigen Stellen Farbreste zu sehen, wo früher die gelben Mittelstreifen waren. Mittlerweile sind sie überflüssig, weil es nur noch so wenige Autos gibt. Wir brauchen auch keine Ampeln, aber manche baumeln immer noch windschief über der Straße und sehen aus, als wollten sie jeden Moment runterfallen.
    Der Wiederaufbau geht langsam voran, die Stadt besteht aus einem Flickenteppich von neuen, gepflegten Häusern und alten, verrottenden Gebäuden. Die meisten der neueren Häuser stehen entlang des Sumpflands, das vor langer Zeit einmal ein See war. Die Stadterneuerungsbehörde der Altruan, bei der meine Mutter arbeitet, ist für den Großteil der Aufbauarbeiten verantwortlich.
    Wenn ich von außen das Leben der Altruan betrachte, finde ich es wunderschön. Wenn ich sehe, welche Harmonie in meiner Familie herrscht. Wenn ich sehe, wie alle, die woanders zum Essen eingeladen sind, ungefragt beim Geschirrspülen helfen. Wenn ich sehe, wie Caleb Fremden hilft, ihre Einkäufe zu tragen. Ich könnte mich immer wieder neu in dieses Leben verlieben. Doch wenn ich mich selbst so verhalten soll, gelingt es mir nicht. Ich fühle mich nie so, als käme mein Verhalten von ganzem Herzen.
    Aber wenn ich eine andere Fraktion wähle, dann muss ich meine Familie verlassen. Und zwar für immer.
    Das Stadtviertel der Altruan grenzt an das Gebiet mit Bauruinen und verfallenen Gehsteigen, durch das ich nun laufe. An manchen Stellen ist die Straße eingesunken, darunter kommen die Abwasserkanäle und die verlassenen U-Bahn-Schächte zum Vorschein. Diese Stellen sind gefährlich. Manchmal stinkt es so entsetzlich nach Abwasser und Unrat, dass ich mir die Nase zuhalten muss.
    Hier wohnen alle, die zu keiner Fraktion gehören. Weil sie die Initiation bei der von ihnen gewählten Fraktion nicht bestanden haben, leben sie in Armut und verrichten die Arbeiten, die niemand sonst verrichten will. Sie sind Hausmeister, Bauarbeiter und Müllmänner; sie schuften, fahren Züge, lenken Busse. Ihre Arbeit wird mit Kleidung und Essen entlohnt. Und trotzdem hätten sie von beidem zu wenig, behauptet meine Mutter.
    An einer Ecke steht einer dieser bedauernswerten Fraktionslosen. Seine braune Kleidung ist schäbig und er hat eingefallene Wangen. Er starrt mich an und ich starre zurück. Ich kann nicht wegsehen.
    » Entschuldige«, spricht er mich an. Seine Stimme ist rau. » Hast du etwas Essbares für mich?«
    Ich spüre einen Kloß im Hals und eine innere Stimme ermahnt mich: Zieh den Kopf ein und geh weiter.
    Nein, denke ich kopfschüttelnd. Es ist nicht richtig, sich vor diesem Mann zu fürchten. Er braucht Hilfe, und die sollte ich ihm gewähren.
    » Ähm… ja«, murmle ich und greife in meine Tasche. Mein Vater hat gesagt, ich solle für Gelegenheiten wie diese immer etwas zu essen bei mir haben. Ich gebe dem Mann einen kleinen Beutel mit getrockneten Apfelschnitzen.
    Er greift danach, aber statt den Beutel zu nehmen, umklammert er mein Handgelenk. Er lächelt mich an. Zwischen seinen Schneidezähnen klafft eine Lücke.
    » Na, du hast aber schöne Augen«, sagt er. » Schade, dass du sonst so unscheinbar bist.«
    Mein Herz klopft wie verrückt. Ich will meine Hand wegziehen, aber er hält mich nur umso fester. Sein Atem riecht unangenehm faulig.
    » Du bist ein bisschen zu jung, um ganz allein durch die Gegend zu streifen, Kleine«, sagt
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