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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
Autoren: Veronica Roth
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Exakt um 7:25 Uhr beweisen die Mitglieder dieser Fraktion ihren Mut, indem sie aus dem fahrenden Zug springen. Mein Vater nennt die Ferox » wilde Teufel«. Sie haben Piercings, Tattoos und tragen Schwarz. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den Zaun zu bewachen, der unsere Stadt umgibt. Wozu dieser Zaun dient, ist mir allerdings nicht wirklich klar.
    Eigentlich müsste ich mich über die Ferox wundern. Eigentlich müsste ich mich fragen, was um alles in der Welt Metallringe in der Nase mit Mut– der Tugend, die sie über alles schätzen– zu tun haben. Stattdessen gaffe ich sie an, sobald ich auch nur einen von ihnen sehe.
    Das pfeifende Geräusch des Zugs schwingt in mir weiter. Der Scheinwerfer an der Lok blinkt, während der Zug kreischend an uns vorbeirattert. Aus den letzten Waggons springt eine Horde dunkel gekleideter Jugendlicher, einige lassen sich zu Boden fallen und rollen sich ab, andere laufen stolpernd ein paar Schritte, bis sie ihr Gleichgewicht wiederfinden. Einer der Jungs legt den Arm um ein Mädchen und lacht.
    Es ist kindisch, ihnen dabei zuzusehen. Entschlossen kehre ich dem Fenster den Rücken zu und drängle mich durch die wartenden Schüler in den Klassenraum, wo die Geschichte der Fraktionen auf mich wartet.

2 . Kapitel
    Nach dem Mittagessen beginnen die Tests. Wir sitzen an langen Tischen in der Cafeteria, und die Prüfer rufen nacheinander zehn Namen auf, einen Namen für jedes Prüfungszimmer. Ich sitze neben Caleb, mir gegenüber ist Susan, unsere Nachbarin.
    Susans Vater hat ein Auto, weil er quer durch die Stadt fahren muss, um zu seiner Arbeitsstelle zu gelangen. Er bringt seine Kinder, Susan und Robert, jeden Tag zur Schule und hat auch uns angeboten, uns mitzunehmen. Caleb jedoch meinte, dass wir lieber etwas später aus dem Haus gingen und ihm keine Unannehmlichkeiten bereiten wollten.
    Natürlich nicht.
    Die meisten Prüfer sind Freiwillige der Altruan, aber in einem Prüfungszimmer sitzt ein Ken und in einem anderen ein Ferox, um die Kandidaten unserer Fraktion zu testen. Die Regeln verbieten es, von seinesgleichen geprüft zu werden. Die Regeln verbieten es auch, sich auf den Test vorzubereiten, weshalb ich nicht genau weiß, was mich erwartet.
    Mein Blick wandert von Susan zu den Tischen, an denen die Ferox sitzen. Sie lachen, unterhalten sich laut und spielen Karten. An einer anderen Tischgruppe sitzen die Ken und sprechen über Bücher und Zeitungen, wie immer unersättlich in ihrem Wissensdurst. Gelb und rot gekleidete Amite-Mädchen sitzen auf dem Fußboden der Cafeteria, spielen ein Klatschspiel und sagen dazu Reime auf. Immer wieder brechen sie in fröhliches Gelächter aus, wenn eine von ihnen ausscheidet und sich in die Mitte des Kreises setzen muss. Am Tisch neben ihnen gestikulieren einige Candor. Sie scheinen lebhaft über etwas zu streiten, aber es ist wohl nichts Ernstes, denn sie lächeln dabei.
    Nur wir Altruan sitzen da und warten still. Das Bestreben unserer Fraktion ist es, Müßiggang und Eigensucht auszumerzen. Ich bezweifle, dass alle Ken ständig nur lernen oder dass alle Candor andauernd diskutieren wollen, aber sie können sich ebenso wenig wie ich über die Grundsätze ihrer Fraktionen hinwegsetzen.
    Als die nächste Gruppe aufgerufen wird, ist auch Caleb dabei. Er geht zum Ausgang. Ich muss ihm weder Glück wünschen, noch muss ich ihm versichern, dass er nicht aufgeregt sein soll. Er weiß genau, wohin er gehört. Ich schätze, er wusste das schon immer.
    In einer meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist Caleb gerade mal vier Jahre alt. Damals schimpfte er mit mir, weil ich auf dem Spielplatz mein Hüpfseil nicht einem kleinen Mädchen geben wollte, das nichts zum Spielen hatte. Inzwischen belehrt er mich nicht mehr so oft, aber seinen missbilligenden Blick von damals habe ich bis heute nicht vergessen.
    Ich habe ihm schon oft zu erklären versucht, dass ich anders bin als er– es wäre mir zum Beispiel nicht im Traum eingefallen, meinen Platz im Bus einem Candor anzubieten–, aber er kapiert es nicht. » Tu einfach, was man von dir erwartet«, sagt er immer. So einfach ist das für ihn. Wenn es das für mich auch nur wäre.
    Mein Magen rebelliert. Ich kneife die Augen zu und öffne sie nicht mehr, bis Caleb zehn Minuten später wiederkommt und sich hinsetzt.
    Mein Bruder ist kalkweiß im Gesicht. Er reibt die Handflächen an den Beinen, wie ich es immer tue, wenn ich mir den Schweiß abwische, und als er damit aufhört, bemerke ich, dass seine
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