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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen
Autoren: Émile Zola
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Vergünstigung von ihm haben wollte. Ich sprach mit ihm, senkte aber nie die Blicke, so daß ich die seinen mir bis unter die Haut dringen fühlte. Ich machte mir aber nicht viel daraus, wußte ich doch, daß er mir alle Wünsche bewilligen würde … Ja, ja, ich erinnere mich noch sehr gut daran! Dort unten giebt es kein Plätzchen im Park, keinen Korridor, kein Zimmer, das mir nicht wieder vor die Erinnerung tritt, sobald ich die Augen schließe.«
    Sie schwieg, ihre Lider hatten sich gesenkt und über ihr geröthetes und aufgedunsenes Gesicht schien ein Schauer der Erinnerung an die Dinge von ehedem zu gleiten, Dinge, von denen sie nicht gesprochen hatte. Einen Augenblick blieb sie in dieser Haltung, ihre Lippen öffneten sich etwas, als verursachte das plötzliche Zucken eines Muskels ihr eine schmerzliche Empfindung am Mundwinkel.
    »Er war gewiß sehr gütig zu Dir,« begann Roubaud. der sich soeben eine Pfeife angezündet hatte, von Neuem, »er hat Dich nicht nur als vornehmes Fräulein erziehen lassen, sondern auch Deine paar Pfennige weise verwaltet, schließlich hat er auch noch die Summe abgerundet, als wir uns verheiratheten … Dabei rechne ich noch gar nicht, daß er Dir etwas hinterlassen will, wie er mir selbst gesagt hat.«
    »Ja,« sagte Séverine leise, »das Häuschen in la Croix-de-Maufras, den von der Eisenbahn durchschnittenen Besitz. Wir haben früher dort öfter eine ganze Woche zugebracht … Ich rechne noch gar nicht darauf, denn die Lachesnaye werden doch die Erbschaft hintertreiben. Ich würde es auch vorziehen, nichts nehmen zu müssen!«
    Sie hatte die letzten Worte so lebhaft hervorgestoßen, daß er mit seinen runden, sich vergrößernden Augen erstaunt die Sprecherin anblickte und die Pfeife aus dem Munde nahm.
    »Bist Du komisch! Man erzählt sich, daß der Präsident Millionär sei. Was ist also dabei so Schlimmes, wenn er auch seine Pflegetochter in seinem Testament bedenkt? Das würde Niemand überraschen und unsern Verhältnissen käme es gut zu statten.«
    Dann ließ ihn ein durch den Kopf gehender Gedanke laut auflachen.
    »Du befürchtest doch nicht, für seine leibliche Tochter gehalten zu werden? … Du weißt doch, daß man sich vom Präsidenten trotz seiner eisigen Miene nette Sachen erzählt? Selbst zu Lebzeiten seiner Frau soll kein Mädchen verschont geblieben sein. Das ist ein Spitzbube, der noch heute bei der Frau seinen Mann steht.. Großer Gott, wenn Du wirklich seine Tochter wärest?«
    Séverine war unwillig aufgesprungen, ihr Gesicht flammte und das Feuer ihrer blauen Augen unter dem schweren schwarzen Haar leuchtete unstät.
    »Seine Tochter, seine Tochter! …Ich will nicht, daß Du mich damit neckst, verstanden? Wie könnte ich seine Tochter sein? Sehe ich ihm ähnlich? … Genug davon, sprechen wir von etwas Anderem. Ich will einfach deshalb nicht nach Doinville fahren, weil ich es vorziehe, mit Dir nach Havre zurückzukehren,«
    Er wiegte beruhigend den Kopf. Wie ihr das im Augenblick in die Nerven gefahren war! Er lächelte, denn er hatte sie noch nie so aufgeregt gesehen, das machte wahrscheinlich der Weißwein. Es lag ihm daran, sie wieder gut zu stimmen und so ergriff er abermals das Messer, wobei er nochmals seiner Bewunderung einen lauten Ausdruck gab und reinigte es sorgfältig. Dann verkürzte er sich die Nägel, um zu zeigen, daß es wie ein Rasirmesser schnitt.
    »Schon vier und ein viertel Uhr,« bemerkte Séverine leise vor der Kukuksuhr. »Ich habe noch einige Wege … Wir müssen an unsern Zug denken.«
    Doch ehe sie sich an die Ordnung des Zimmers machte, wollte sie sich erst noch etwas beruhigen und trat an das Fenster. Er ließ Messer Messer, Pfeife Pfeife sein, stand ebenfalls vom Tische auf, näherte sich ihr und nahm sie sanft in seine Arme. Er zog sie fest an seine Brust, drückte das Kinn auf ihre Schulter und preßte seinen Kopf an den ihren. Keines von Beiden rührte sich, ihre Augen suchten den Fernblick.
    Zu ihren Füßen kamen und gingen die kleinen Rangirlokomotiven noch immer rastlos; man hörte sie, gerade wie gewandte und kluge Wirtschafterinnen, kaum bei ihrer Thätigkeit, ihre Räder schienen umwickelt, ihr Pfiff ertönte discret. Die eine von ihnen verschwand jetzt unter dem Pont de l’Europe mit einem von Trouville gekommenen Zuge, dessen Waggons in die Schuppen gebracht wurden. Dort unten, jenseits der Brücke, kreuzte sie sich mit einer Lokomotive, die wie eine einsame Spaziergängerin, allein vom Depot kam; ihre Achsen
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