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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen
Autoren: Émile Zola
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und Kupfertheile leuchteten, als hatte sie soeben frisch und keck sich zur Reise angekleidet. Die große Maschine hielt jetzt und forderte durch zwei kurze Pfiffe den Weichensteller auf, die Geleise passirbar zu machen; dieser that es sofort und die Lokomotive rollte auf den in der Halle für den Fernverkehr abgangsbereit stehenden Zug zu. Es war der vier Uhr fünfundzwanzig Zug nach Dieppe. Ein Strom von Reisenden drängte durcheinander. Man hörte das Rollen der mit Gepäck beladenen Karren, die Gepäckträger beförderten Stück für Stück in die Waggons. Inzwischen war die Lokomotive mit ihrem Tender auf den Stirnwagen des Zuges aufgefahren, was einen dumpfen Krach gab und man sah einen Arbeitsmann die Koppelung aufwinden. Gegen Batignolles hin hatte sich der Himmel umdüstert; ein aschfarbenes Halbdunkel tauchte die Umrisse der fernen Gebäude in seine Schatten und schien schon über den sich ausbreitenden Fächer der Schienen zu kriechen. Und in diesem Dunkel kreuzten sich unaufhörlich die ankommenden und abfahrenden Züge des Ring- und Vorortverkehrs. Hier die düsteren Reihen der großen Glashallen, dort über dem verschleierten Paris röthliche, vielgezackte Rauchwolken.
    »Nein, nein, lasse mich,« sagte Séverine leise.
    Sein Athem strömte ihr in den Nacken. Allmählich war seine Zärtlichkeit eine innigere geworden; die Wärme ihres jungen, von ihm so eng umschlungenen Körpers brachte sein Blut in Wallung. Der von ihr ausgehende Duft berauschte ihn und das abwehrende Drängen ihrer Glieder fachte seine Wünsche vollends an. Mit einem Ruck hatte er sie vom Fenster los, dessen Flügel er schloß. Sein Mund fand den ihrigen, fast biß er ihre Lippen wund und mit unwiderstehlicher Gewalt drängte er sie zum Bett.
    »Nein, nein, wir sind nicht zu Hause,« wiederholte sie. »Ich bitte Dich, nicht hier in diesem Zimmer!«
    Sie fühlte sich ebenfalls durch die reichliche Sättigung und das genossene Getränk wie berauscht, und ihre Sinne waren von dem fieberhaften Sturmlauf nach Paris noch in Aufruhr. Dazu dieses überheizte Zimmer, diese überreiche Tafel, die Plötzlichkeit der Reise, die einen so guten Ausgang zu nehmen schien, alles das erhitzte ihr Blut und kitzelte ihre Nerven. Trotzdem weigerte sie sich, sie widerstand ihm und stemmte sich mit Leibeskräften gegen das Holzgestell des Bettes in einer Anwandlung von ihr selbst nicht erklärlicher Furcht.
    »Nein, nein, ich will nicht.«
    Er, das Blut im Gesicht, hielt sie mit seinen mächtigen brutalen Fäusten wie in einem Schraubstock.
    »Dummes Ding! Wer weiß es? Wir bringen ja das Bett wieder in Ordnung!«
    In Havre bildete, da er Nachtdienst hatte, die Zeit nach Tisch ihr gewöhnliches Kosestündchen, dem sie sich auch mit gefälliger Folgsamkeit nicht zu entziehen pflegte. Die Sache machte ihr zwar keinen Spaß, aber sie fühlte sich glücklich und behaglich bei dem Gedanken, auf ihr eigenes Vergnügen ihm zu Liebe verzichten zu können. In diesem Augenblick aber machte es ihn toll, daß er sie so feurig, von Leidenschaft durchzittert fühlte, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Der dunkle Wiederschein ihres Haares ließ die sonst so kühlen Augen unergründlich tief erscheinen, ihr stark entwickelter Mund schimmerte wie Blut in dem sanften Oval ihres Gesichts. Er hatte mit einem Male eine Frau vor sich, die er noch nie gesehen. Warum willfahrte sie ihm nicht?
    »Warum, sprich? Wir haben noch Zeit.«
    In ihrer unerklärlichen Angst, in dem Kampf, der sie hinderte, die Dinge klar zu erkennen, als wenn sie selbst sich als eine Andere erschiene, entfuhr ihr ein Schrei wirklichen Schmerzes, der ihn veranlaßte, sich ruhiger zu verhalten.
    »Ich beschwöre Dich, lasse mich! … Schon der bloße Gedanke, in diesem Augenblick, erwürgt mich … Das würde zu nichts Gutem führen.«
    Beide saßen jetzt auf dem Rande des Bettes. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er das siedende Gefühl von dort verwischen. Als sie ihn wieder vernünftig geworden sah, beugte sie sich liebenswürdig zu ihm und gab ihm einen derben Kuß auf die Backe, als Beweis, daß sie ihn trotzdem lieb hätte. Sie blieben dann einen Augenblick unbeweglich und lautlos sitzen. Er hatte ihre rechte Hand ergriffen und spielte mit einem alten Goldreif einer Schlange mit einem Köpfchen von Rubinen, den sie seit ihrer Hochzeit stets an demselben Finger trug. Stets halte er ihn dort gesehen.
    »Meine kleine Schlange,« sagte Séverine wie im Traume befangen; sie glaubte, er
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