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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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Umschreibungen sind nicht wesentlich besser als Geisteskranker, Idiot oder Schwachsinniger – Begriffe übrigens, die man in den Zeiten, als sie eingeführt wurden, stets als Versuch verstand, derbe umgangssprachliche Bezeichnungen im Geiste von Wissenschaft und Humanität zu ersetzen. Doch vereinnahmte der Volksmund die neuen, zunächst neutral erscheinenden Fachtermini schnell und konnotierte sie mit verächtlichen Untertönen. In der Gegenwart werden die Begriffe Opfer, Spastiker und Behinderter zunehmend in Schimpf- und Schmähwörter verwandelt.
    Ich halte nichts davon, von Menschen zu sprechen, »die als schizophren, manisch-depressiv oder epilepsiekrank diagnostiziert wurden«, oder andere gewundene, scheinbar korrekte Ausdrucksweisen zu erfinden. Die meisten Opfer der Euthanasie litten an realen, nicht an herbeidiagnostizierten Problemen, die allermeisten erfüllten das zentrale Kriterium der Morde: Sie konnten nicht hinlänglich produktiv arbeiten, sie verbrauchten Gelder, banden Ressourcen und Arbeitskräfte. Deshalb mussten sie sterben. Als Klaus Hartung und ich 1987 den Text für das Berliner Denkmal entwarfen, mit dem seit 1989 die Toten der Euthanasie geehrt werden, umschrieben wir diese so: »Die Opfer waren arm, verzweifelt, aufsässig oder hilfsbedürftig. Sie kamen aus psychiatrischen Kliniken und Kinderkrankenhäusern, aus Altersheimen und Fürsorgeanstalten, aus Lazaretten und Lagern.« Der Text kann sich, denke ich, noch sehen lassen, ein Wort, das die Ermordeten insgesamt in freundlicher Weise umschließt, ist damit nicht gefunden.

    Wien und Berlin, November 2012 

Für die Angehörigen: eine amtsgeheime Maßnahme
    Des Weiteren wandte sich Morell der Frage zu, wie das Projekt durchgeführt werden könne. Er empfahl eine »staatliche Aktion« und die volle Übernahme der Kosten seitens der Berliner Zentralbehörden. Zwar hatte er seine Empfehlungen mit dem Paragraphen 1 eines künftigen Gesetzes zur aktiven Sterbehilfe begonnen, doch konzipierte er an dieser Stelle nicht etwa den Paragraphen 2, sondern warf die grundsätzliche Frage auf, ob ein Euthanasiegesetz überhaupt zweckmäßig sei: »Soll die Maßnahme zur Grundlage ein veröffentlichtes Gesetz haben« oder besser »im Wege amtsgeheimer Anordnung durchgeführt werden?« Die Antwort hatte er bereits parat: »Der letztere Weg erscheint zunächst unverständlich. Ich halte es aber doch für gerechtfertigt, ihn in diesem Zusammenhang zu behandeln. Er berührt ein Moment, das in Meltzers Statistik zum Ausdruck kommt.«
    Wer war Meltzer? Was hatte es mit dessen Statistik auf sich? Obermedizinalrat Ewald Meltzer (1869–1940) leitete knapp 30 Jahre lang den Katharinenhof, eine sächsische Landespflegeanstalt für bildungsunfähige schwachsinnige Kinder in Großhennersdorf (Oberlausitz). In dieser Eigenschaft, aus freien Stücken, aber aus gegebenem Anlass hatte er 1920 eine Befragung zum »Problem der Abkürzung ›lebensunwerten‹ Lebens« durchgeführt und die Ergebnisse fünf Jahre später veröffentlicht. Unmittelbar vor der Umfrage war die bereits genannte, damals viel diskutierte Streitschrift »Die Vernichtung lebensunwerten Lebens« erschienen. In dieser Situation schickte Meltzer den Eltern der 200 ihm anvertrauten Kinder den folgenden Fragenkatalog:
    »1. Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, dass es unheilbar blöd ist?« Wer diese Frage mit Nein beantwortete, hatte sich den beiden folgenden Zusatzfragen zu stellen: »2. Würden Sie diese Einwilligung nur für den Fall geben, dass Sie sich nicht mehr um Ihr Kind kümmern können, zum Beispiel für den Fall Ihres Ablebens? 3. Würden Sie die Einwilligung nur geben, wenn das Kind an heftigen körperlichen und seelischen Schmerzen leidet?« Die vierte und letzte Frage lautete: »Wie stellt sich Ihre Frau zu den Fragen 1–3?« In einem Nachsatz versicherte Anstaltsdirektor Meltzer den Eltern, die Fragen seien theoretischer Natur: »Ihr Kind selbst ist so weit gesund und munter. Sollten Sie durch vorstehende Fragen etwa Sorge um das Leben Ihres Kindes haben, so sei Ihnen zur Beruhigung gesagt, dass den hier verpflegten Kindern auch weiterhin die gleiche gewissenhafte Pflege zuteilwird wie bisher.« Selbst wenn später einmal ein Gesetz ergehen sollte, so fuhr Meltzer fort, »das es gestatten würde, das Leben solcher Kinder abzukürzen, so könnte dies doch nie ohne
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