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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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obwohl es uns allen bekannt und selbstverständlich erscheint, dass unsere Tante von den Nazis ermordet wurde. Ich selbst habe das – unter anderem aus Rücksicht auf meine Mutter, die das Thema immer abwehrte – auch nicht getan. Erst jetzt hat ihre Enkelin (unsere Tochter) sich bemüht, Fakten und Erinnerungen zu sammeln und das Geschehen aufzuarbeiten. Meine Mutter hat trotz ihres hohen Alters noch ein sehr gutes Gedächtnis und steht ihr für Interviews zur Verfügung, und es gibt Unterlagen beziehungsweise Listen, auf denen das Opfer und ihr Transport von einer Klinik zu einer weiteren namentlich verzeichnet ist. Jetzt endlich überlegen wir (verschiedene Nachkommen des Opfers), auf welchem Weg und mit welchen Mitteln wir unserer Tante gedenken können. Eine Gedenkdatei, wie im Artikel vorgeschlagen, wäre eine Möglichkeit, die Verlegung eines Stolpersteines eine weitere.«
    Jürgen F. Bollmann teilte mit: »Unsere Großmutter, Hedwig Minna Schuster, ist nach den Recherchen der Gedenkstätte Sonnenstein am 12. November 1940 dort vergast worden (in der Sterbeurkunde steht als Datum der 21. November – neun Tage, für die das Regime länger die Zahlung der Krankenkasse eingesteckt hat, was wohl in solchen ›Fällen‹ üblich war). Bis 1995 haben meine Eltern und Tanten darüber mit uns Kindern nicht gesprochen. Erst nach ihrem Tod bin ich einer Intuition folgend den Dingen nachgegangen. 1995 konnte ich aus Dresden keine Auskunft über Sonnenstein als Euthanasiestation erhalten. Eine Zeitungsnotiz über die Eröffnung der Gedenkstätte 2001 und mein anschließender Besuch dort haben mir dann Gewissheit verschafft, dass meine Großmutter wie die Künstlerin Elfriede Lohse-Wächtler und der als Kriegsdienstverweigerer inhaftierte Justitiar der Bekennenden Kirche, Martin Gauger, in Sonnenstein noch am Tag ihrer ›Anlieferung‹ aus Tschadraß (bei Leipzig) ermordet worden ist. Das einzige Papier, das wir von ihr neben der Sterbeurkunde gesehen haben, ist der ›Lieferschein‹ über den Transport.«

    Solche Briefe und zuvor schon Gespräche mit Nachkommen von Opfern der Euthanasiemorde bestärkten mich bei der Arbeit an diesem Buch. Es reicht nicht, auf der einen Seite die vielen Opfer zu beklagen und auf der anderen rund 500 Nazitäter als gewissenlose Ideologen, Bösewichte oder Mörder im weißen Kittel zu verteufeln. Auf Dauer bedeutsam, vielleicht lehrreich bleibt die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, nach jener Vielzahl von Menschen, die zwischen den unmittelbaren Mördern und den Ermordeten standen. Deshalb entschied ich mich für den mehrdeutigen Buchtitel »Die Belasteten«. Das Wort deutet nicht auf die Mörder, sondern auf die Ermordeten. Es führt zum »erblich« oder »psychisch Belasteten« und zu dessen »belasteter Familie«; es enthält Anklänge an Begriffe wie »Lästige«, »Ballastexistenzen« und »Soziallasten«, aber auch an Menschen, die jemandem »zur Last fallen« oder – heutzutage überwiegend umgekehrt formuliert – »niemandem zur Last fallen möchten«. Der Titel »Die Belasteten« umfasst die Ermordeten, aber auch die »Lebenslast« der Angehörigen und das damit verschwisterte Bedürfnis nach »Entlastung«, nach individueller und kollektiver »Befreiung von einer Last«.
    Aus dem Umkreis meiner Familie weiß ich von zwei gegensätzlichen Geschichten, die mit den Euthanasiemorden zusammenhängen. Die eine handelt von Martha Ebding, geboren 1906, gestorben 1957 in den Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Sie litt an schweren, ihr Wesen verändernden epileptischen Anfällen. Ihren Nichten erschien sie als »schmale, graugekleidete, düstere, unheimliche Gestalt«. Sie war in den Korker Anstalten untergebracht. Die Schwestern dort warnten die Verwandten rechtzeitig vor den Abtransporten, und ihr Bruder, Pfarrer Friedrich Ebding, reagierte sofort, nahm sie aus der Anstalt und brachte sie später zurück. Ende 1944 schrieb er: »Unsere liebe Martha konnten wir am 22. September 1944 nach Bethel bei Bielefeld bringen. Bethel ist einzig, und wir waren immer wieder froh, Martha so gut untergebracht zu wissen …« Des ungeachtet blieb das Thema Tante Martha nach der familiären Überlieferung »stets tabu«.
    Die zweite Geschichte erzählte mir meine Mutter kurz vor ihrem Tod 2008. Mit aller Absicht kam sie auf ihre verstorbene Freundin Annemarie zu sprechen. Diese habe seinerzeit ihr behindertes Baby in eine Euthanasieanstalt gegeben, auf Druck ihres
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