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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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genannten Internetseite erläutert Aviel, warum er ein deutsches Gesetz wegen höherrangiger Rechtsgüter breche. (Dieselbe Erklärung auf Deutsch: www.psychiatrie-erfahrene.de/explanation.html.)

    Ich empfehle, die Piraterie Aviels um ihrer Legitimität willen nachträglich zu legalisieren. Das heißt, die Daten der Toten offiziell ins Netz zu stellen und laufend zu ergänzen. Dann könnten interessierte Familien, Historiker und Heimatforscher Unterlagen und Fotos beisteuern, die ebenfalls mit der Datei zu verbinden wären. So würde mit der Zeit ein sich frei entwickelndes Denkmal für die Toten entstehen. Doch wahrt der Präsident des Bundesarchivs noch Zurückhaltung und teilt mit, die »kompletten persönlichen Angaben« der ermordeten Kranken könnten nur dann veröffentlicht werden, sofern die nächsten Verwandten zustimmten. Das zu erfragen sei jedoch verwaltungstechnisch unmöglich.
    Eine solche in Deutschland keinesfalls allgemeine Haltung zwingt zum Einspruch, wie die zitierten Leserbriefe beweisen. Schließlich bleiben die Ermordeten Personen eigenen Rechts. Sie sind Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie wurden getötet, weil sie als »leere Menschenhülsen«, als »Wesen auf niedrigster tierischer Stufe« galten. Sie sollten möglichst spurlos verschwinden. Ihr Tod wurde von Standesbeamten mit falschen Angaben beurkundet, die Todesursache von Ärzten gefälscht. Es gilt, die Würde der am Ende nurmehr mit Nummern gezeichneten, vorsätzlich entpersönlichten, vergasten und verbrannten Menschen wiederherzustellen. Sie sollen nicht länger von Amts wegen totgeschwiegen werden. Dazu gehört zuallererst die öffentliche Nennung ihrer Namen. Das steht den Toten als individuelles Grundrecht zu, unabhängig davon, was ihre Nachfahren dazu meinen könnten.

    Gewidmet ist dieses Buch meiner Tochter Karline. Kurz nach ihrer Geburt 1979 erkrankte sie an einer Streptokokkeninfektion, der heute mit Hilfe einer Routineuntersuchung vorgebeugt wird. Karline bekam eine Gehirnentzündung und erlitt einen schweren zerebralen Schaden. Bei aller Hilfsbedürftigkeit lacht und weint sie, zeigt Freude und schlechte Laune, liebt Musik, gutes Essen, gelegentlich etwas Bier und Gäste. Doch einfach hat sie es im Leben nicht. Karline brachte mich bald nach ihrer Geburt auf das zeitgeschichtliche Thema »Euthanasiemorde«, das mich seither immer wieder beschäftigt hat.

Hinweise zur Lektüre
    Das vorliegende Buch entstand im Verlauf von 32 Jahren. Dazu teile ich in der Nachbemerkung einige Einzelheiten mit. Die vollen Namen, manchmal auch die Lebensdaten derer, die den Euthanasiemorden zum Opfer fielen, nenne ich, sofern sie mir bekannt sind, nur dann nicht, wenn sie unauffindbar blieben oder ausdrückliche Verbote bestehen. Ich handhabe die Namensfrage genauso, wie das im Fall ermordeter Juden oder politisch Verfolgter üblich ist.
    Die Schreibweise in den Zitaten gleiche ich den derzeit gültigen Regeln an, offenkundige Schreibfehler korrigiere ich stillschweigend, Abkürzungen schreibe ich aus. Abweichend davon glätte ich Selbstzeugnisse von Anstaltsinsassen nur insoweit, als es der Lesbarkeit dient, gebe in Klammern gesetzte Verständnishilfen und ergänze die Interpunktion.
    Solche Texte enthalten Lebensäußerungen von Menschen, die ihre Verfolger als »geistig tot« einstuften, die es jedoch vermochten, ihre Wahrnehmungen, Ängste und Nöte in bewegender Weise aufzuschreiben. Andere Insassen psychiatrischer Einrichtungen konnten zwar nicht schreiben, sich jedoch so klar ausdrücken, dass andere Menschen aufschrieben, was die später Ermordeten mitgeteilt und gefühlt hatten. Quellen, in denen die Ermordeten zu Wort kommen, sind mir wichtig. Ich versammle sie in den Kapiteln »Berichte aus dem Archipel Gaskammer«, »Letzte kindliche Lebenszeichen« und »Nachrichten aus den Sterbehäusern«.
    Seinerzeit gebräuchliche Begriffe wie Euthanasie, Aktion T4, Krüppel, Idiot, Schwachsinniger, Erbgesundheit, Irrer, Geisteskranker usw. setze ich im Vertrauen auf meine Leserinnen und Leser nicht in Anführungszeichen. Den Begriff Euthanasie verwende ich an keiner Stelle im Wortsinn von »schöner Tod«. Zu meinem Bedauern verfüge ich über kein Wort, das ich unbeschwert benutzen könnte, um die Ermordeten insgesamt und frei von negativen Beiklängen zu bezeichnen. Deswegen behelfe ich mich mit Wörtern wie Opfer, Behinderte, psychisch Kranke, Demente, geistig Gebrechliche oder von Geburt an Geschädigte. Solche
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