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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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Lernpulten, die Lehrer vertrieben die Zeit von acht bis neun, bis zur Vorwarnung, mit dem Kommentieren von Zeitungsberichten oder mit dem Berichten von Todesfällen, oder sie schilderten die Zerstörung vieler berühmter deutscher Städte, so war es, was mich betrifft, doch immer zum Englisch- und Geigenunterricht gekommen, denn die Zeit zwischen zwei und vier Uhr war meistens ohne Alarm gewesen. Der Geigenlehrer Steiner unterrichtete mich unbekümmert immer noch im dritten Stock seines Hauses, die Englischlehrerin nurmehr noch in der finsteren ebenerdigen Gaststube in der Linzer Gasse. Eines Tages, wahrscheinlich nach dem zweiten Bombenangriff auf die Stadt, war aus dem Gasthaus in der Linzer Gasse, in welchem mich die Dame aus Hannover unterrichtet hatte, ein Schutthaufen geworden, ich hatte von der vollkommenen Zerstörung des Gasthauses keine Ahnung gehabt und war wie immer in die Nachhilfestunde gegangen, plötzlich vor dem Schutthaufen stehend, war mir von jemandem, den ich nicht gekannt habe, der aber offensichtlich mich gekannt hat, gesagt worden, unter dem Schutthaufen lägen alle Bewohner des Gasthauses, auch meine Englischlehrerin. Vor dem Schutthaufen stehend, hörte ich einerseits, was der Unbekannte auf mich einredete, und dachte gleichzeitig an meine nun umgekommene Englischlehrerin aus Hannover, die ja, nachdem sie in Hannover total
ausgebombt
worden war (so die Bezeichnung für einen Menschen, der in einem Luftangriff oder Fliegerangriff oder sogenannten Terrorangriff alles verloren hat), nach Salzburg geflüchtet ist, um hier vor den Bomben sicher zu sein, und die hier nicht nur
wieder
alles verloren hat, sondern selbst getötet worden ist. Heute steht ein Kino auf dem Platz, das einmal ein Gasthaus gewesen war, in welchem mich die Dame aus Hannover in Englisch unterrichtet hatte, und kein Mensch weiß, wovon ich rede, wenn ich davon rede, wie überhaupt alle, wie es scheint, ihr Gedächtnis verloren haben, die vielen zerstörten Häuser und getöteten Menschen von damals betreffend, alles vergessen haben oder nichts mehr davon wissen wollen, wenn man sie darauf anspricht, und komme ich heute in die Stadt, rede ich doch immer wieder die Leute nach dieser fürchterlichen Zeit an, aber sie reagieren kopfschüttelnd. In mir selbst sind diese furchtbaren Erlebnisse immer noch so gegenwärtig, wie wenn sie gestern gewesen wären, Geräusche und Gerüche sind augenblicklich da, wenn ich in die Stadt komme, die ihre Erinnerung ausgelöscht hat, wie es scheint, ich spreche, wenn ich hier mit Menschen spreche, die tatsächlich alte Einwohner dieser Stadt sind und die dasselbe erlebt haben müssen wie ich, mit den Irritiertesten, Unwissendsten, Vergeßlichsten, es ist, als redete ich mit einer einzigen verletzenden, und zwar geistesverletzenden Ignoration. Wie ich vor dem total zerstörten Gasthaus und also vor dem Trümmerhaufen gestanden bin und die Englischlehrerin aus Hannover aufeinmal nichts als Erinnerung gewesen war, hatte ich nicht einmal geweint, obwohl mir zum Weinen gewesen war, und ich weiß noch, daß ich, plötzlich den Umstand bemerkend, daß ich in der Hand ein Kuvert hatte, in welchem das von meinem Großvater der Englischlehrerin für ihre Bemühungen, mich Englisch zu lehren, zu zahlende Geld war, überlegt habe, ob ich nicht zuhause sagen sollte, ich habe der Englischlehrerin, der Dame aus Hannover,
noch vor ihrem fürchterlichen Tod das Geld gegeben;
ich weiß nicht, ich kann also nicht sagen,
wie
ich gehandelt habe, wahrscheinlich habe ich zuhause gesagt, ich habe der Dame noch vor ihrem Tod die Stunden bezahlt. So hatte ich aufeinmal keine Englischstunden mehr, nurmehr noch Geigenstunden. Während des Geigenunterrichts schaute ich, die Anordnungen meines strengen, nervösen Lehrers befolgend, einerseits also die Befehle des Steiner aufnehmend und ausführend, andererseits alles, nur nicht das den Geigenunterricht Betreffende denkend und dadurch selbstverständlich im Geigenunterricht nicht vorwärts kommend, auf den Sebastiansfriedhof hinunter, auf das schöne Kuppelmausoleum des Erzbischofs Wolf Dietrich und auf die Gräber als Grab
denkmäler
und Grüfte, die von der Zeit schon wieder halb geöffnet waren und eine furchtbare, mich ängstigende Kälte ausströmten, hinunter auf die Friedhofsarkaden mit den Namen der Salzburger Bürger, unter welchen viele Namen von mit mir Verwandten stehen. Ich war schon immer gern auf die Friedhöfe gegangen, das hatte ich von meiner Großmutter
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