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Die Auswanderinnen (German Edition)

Die Auswanderinnen (German Edition)

Titel: Die Auswanderinnen (German Edition)
Autoren: helga zeiner
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hinunter und wartete auf das nachfolgende angenehme Brennen im Magen. Sie schüttelte sich kurz. Wärme stieg ihr vom Bauch bis in den Kopf und verjagte die Geister der Vergangenheit, die einfach nicht weichen wollten. Sie lächelte Mira aufmunternd zu, deren Glas ebenfalls leer war.
    „Noch einen?“, fragte sie und bestellt Nachschub, ohne auf Antwort zu warten.
    Heute wollte sie nichts anderes, als den Erinnerungen, die Evas Telefonanruf heraufbeschworen hatte, zu entfliehen. Doch die Schatten der Vergangenheit hatten sich bereits auf ihr Gemüt gelegt, und noch während sie krampfhaft versuchte, sich in der vergnügten Geselligkeit des Pubs zu verlieren, drängten sich die Bildern wie alles begonnen hatte, an die Zeit, als sie sich noch Johanna genannt hatte, immer mehr in ihr Bewusstsein.

Kapitel 3
     
     
    Bremen, 1972
     
    Noch nie hatte sie ein so großes Schiff gesehen. Die Queen Frederika lag fest vertäut am Pier und schaukelte auf den Wellen, die hoch an der Kaimauer aufspritzten, hin und her. Das graue Meer war für die Passagiere, die sich an der abgesperrten Gangway sammelten, nicht sichtbar. Nur in der schmalen Rinne zwischen Schiff und Hafen brodelte das nasse Element, welches ihnen für die nächsten sechs Wochen jede Landschaft ersetzen würde. Johanna hatte sich anfänglich vor der Reise gefürchtet, weil sie dem Wasser nicht vertraute. Es war ihr schon immer ein Rätsel gewesen, wie sich ein Schiff über Wasser halten konnte, anstatt zu versinken. Als sie nun die Queen Frederika vor sich sah, dieses weiße, stabile Hochhaus mit seinen vielen runden Fenstern, hätten ihre ursprünglichen Ängste eigentlich wieder auftauchen und sie in ihrer Meinung bestärken müssen, aber erstaunlicherweise trat genau das Gegenteil ein. Plötzlich war sie überzeugt davon, dass diesem Schiff niemals etwas passieren würde. Ganz im Gegenteil, es würde jedem Wetter trotzen, und sie würde sich darin so geborgen fühlen wie in ihrer winzigen Wohnung in Heidelberg, die sie bis vor kurzem noch bewohnt hatte.
    Nun bahnte sich ein Angestellter der Chandris Line einen Weg durch die unruhige Menge der Wartenden. Er öffnete die Absperrung mit einem Schlüssel und rief laut über ihre Köpfe hinweg: „Bitte halten Sie ihre Tickets bereit. Wir sind bereit zum Einsteigen.“
    Ein aufgeregter Ruck ging durch die Menschenmenge. Sie drängte vorwärts, als wäre es wichtig, möglichst schnell einzusteigen. Dabei hatte jeder einen Passierschein in der Hand, der ihm einen Platz auf dem Dampfer garantierte. Es war erst elf Uhr vormittags und sie hatten noch den ganzen Tag Zeit, um an Bord zu gehen, denn die Queen Frederika würde erst spät am Abend ablegen. Auch Johanna wurde von der allgemeinen Aufregung angesteckt. Sie klammerte sich an Kurts Ellbogen. „Es geht los! Es ist soweit!“
    Er nickte nur und grinste überlegen, wie es eben so seine Art war. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen.
    „Hast du die Tickets?“, fragte sie zum wiederholten Mal.
    „Himmel, Johanna! Sie sind hier sicher aufgehoben“, Kurt klopfte sich stolz auf die Brust, „zusammen mit dem Bargeld! Die Koffer sind bereits an Bord gebracht, deine Eltern sind Gottlob zu Hause in ihrem Kaff, wo sie auch hingehören und wo sie uns nicht mehr lästig sind. Dein Ehering steckt an deinem Finger – und damit ist ja wohl alles geregelt!“
    Damit spielte er auf ihre Sorge an, den Ring zu verlieren. Seit Kurt und sie vor einer Woche geheiratet hatten, überprüfte sie ununterbrochen, ob sich der schmale Silberreif noch an ihrem Finger befand. Johanna hatte außer einem kleinen Goldkettchen, das ihr ihre Großmutter zur Kommunion geschenkt hatte, nie Schmuck getragen. Der Ehering war ein Fremdkörper für sie, an den sie sich erst gewöhnen musste, und gleichzeitig hatte sie Angst, dass sie ihn eines Tages irgendwo liegen lassen würde. Schließlich war er das sichtbare Zeichen ihrer großen Liebe. Schützend bedeckte sie mit ihrer linken Hand den Ring. Kurt, der ihre unbewusste Geste gesehen hatte, schüttelte nachsichtig den Kopf, und sie lächelte ihn entschuldigend an. Seine boshafte Anspielung auf ihre Eltern ignorierte sie allerdings. Zwischen ihm und ihren Eltern herrschten solche Spannungen, dass sie sich nicht einmal richtig von ihnen hatte verabschieden können. Kurt hatte das nicht gewollt, denn ihre Eltern hatten sich von Anfang an gegen ihn gestellt. Und so hatte Johanna ihnen deshalb auch erst heute Morgen telefonisch Lebewohl gesagt und
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