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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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gewesen, er hatte sich stark und schnell und unermüdlich gefühlt. Am nächsten Morgen war er abgefahren. Als er zurückkehrte, fühlte er sich sehr müde. Später dachte er: es lag nur an meiner Müdigkeit. Nicht an der Landschaft, nicht an der Stadt. Nur die Müdigkeit und die Hitze waren an allem schuld.
    Er saß in dem großen Wohnzimmer in der künstlichen Kühle und strich mit der Hand über das beschlagene Glas. Es ähnelte den Gläsern auf Whisky-Anzeigen. Er wusste, dass es das beste wäre, sich schnell zu betrinken und dann zu schlafen.
    Es war ganz genau so wie bei seinem ersten Besuch. Damals hatten sie hier gesessen und über Asien gesprochen. Der Mann vor ihm hatte ihn angelächelt und gesagt:
    – Das Gewissen der Welt. Ich weiß, ich habe in Schweden gewohnt. Die Schweden haben die einzigen transportablen Gewissen der Welt, sie fahren wie professionelle Moralisten in der Welt herum. Sie sprechen aber nie über die Situationen, in denen sie sich selbst moralischen Konflikten ausgesetzt sahen. Die Transitzüge der Deutschen. Die Auslieferung der Balten. Was weißt du eigentlich über die Auslieferung der Balten?
    Er hätte sofort mit fünf durchschlagenden und direkt tödlichen Argumenten antworten können, aber wozu? Hier saß er, ein ehemaliger Liberaler, seit vier Jahren bekehrter Sozialist, und konnte nicht einmal sich selbst das eigenartige Gefühl des Abstands und der Müdigkeit erklären, das er empfand. Er fühlte sich Angriffen schutzlos ausgeliefert, das einzige, womit er sich wappnen konnte, war ein abstraktes »Engagement«, das aber mit einfachsten Angriffen sabotiert werden konnte. Wie oft hatte er das schon erlebt? Sie hatten von Venezuela gesprochen, und sofort war das Stichwort »Tibet« gefallen, wie bei einem Spielautomaten. Er wusste nichts über Tibet und war verstummt. Warum war er nicht nach Tibet gereist? War er nur an seinem eigenen Engagement interessiert oder an Tatsachen?
    Sie hatten über die Rassensituation in den Südstaaten gesprochen. Im Augenblick fand gerade ein Marsch von Memphis nach Jackson statt. Auf einen Mann war geschossen worden, es war ein »Marsch gegen die Angst«. Sie sprachen über die Rassenunterdrückung, und er versuchte, seine eigene politische Entwicklung darzulegen, die eine einzige Bewegung nach links gewesen war; aber das Gespräch war recht nebulös, sie kamen nicht zum Kern der Sache. Er sprach mit einem unbestimmten Gefühl der Scham, als würde er sich eine politische Situation zunutze machen, statt auf sie einzuwirken. Das war völlig irrational, unnötig, er sollte nicht so denken. Er wusste: es gab Formulierungen, die das schlüssig bewiesen, er hatte eine harte rhetorische Schule hinter sich. Aber wo stand er selbst in diesem Wust von Problemen?
    Er hatte bisher immer jene zornige Erregung verabscheut, die nichts als eine sentimentale Geste ist. Die Erregung, von der er selbst mitunter befallen wurde, war auch nie etwas anderes als Sentimentalität gewesen. Er vermochte nur nicht eine direkte Form zu finden, die frei von Empfindsamkeit war. Was er erlebte, schien seinen Pessimismus nur noch zu verstärken.
    Dies alles hängt sehr direkt und konkret mit der Untersuchung zusammen.
    An einem Freitagmorgen in der Frühe kam er nach Jackson, Mississippi. Er fuhr mit dem Bus. Auf dem Weg nach Süden überholte der Bus den Demonstrationszug; hundert, hundertfünfzig Menschen, die am Straßenrand entlanggingen. Farbige und Weiße. Sie waren in Memphis losmarschiert, auf dem Weg nach Jackson. Dies war der letzte Sommer für idealistische Bürgerrechtsmärsche, für Gewaltlosigkeit, für klaräugige und hübsche Idealisten aus dem Norden, die in den fürchterlichen Süden reisten, um ihr Mitgefühl zu demonstrieren. Man schrieb den Sommer 1966; noch immer wurde »We shall overcome« gesungen, ohne dass es möglich gewesen wäre, den Zynismus zu entdecken. Er drückte das Gesicht gegen die Scheibe und versuchte, die Gesichter der Demonstranten einzufangen, aber der Bus fuhr zu schnell. Er sah sie nur als verschwommene weiße Flecken, Flecken, die ihm nicht das Geringste sagten. Es muss entsetzlich warm gewesen sein: der Weg führte durch eine weite, flache Ebene ohne Bäume; zwischen den vereinzelten baufälligen Wellblechhütten lagen Kilometer. Ein langer, verfluchter Weg, Schweiß und wundgescheuerte Fersen. Er drehte sich um und blickte in ein lächelndes Gesicht neben sich: ein Mann, der während der Nacht zugestiegen war, als er selbst schlief.
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