Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Titel: Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Autoren: Jennifer Bosworth
Vom Netzwerk:
schwarzen Kleid und hohen schwarzen Stiefeln. Ihr Lippenstift hatte einen Rotton, bei dem ich an Stoppschilder denken musste. Ich konnte mich nicht erinnern, sie vor dem Beben schon einmal in der Schule gesehen zu haben, und sie war jemand, der einem im Gedächtnis blieb. Falls sie keine Schülerin der Skyline-Highschool war, hatte sie keinen Anspruch auf Unterstützung. Vielleicht glaubte sie, den Helfern ein paar Lebensmittel abluchsen zu können, wenn sie ihnen schöne Augen machte. So wie sie aussah, würde das vermutlich auch funktionieren.
    Ich blickte mich um und sah, dass sich die Menge zerstreut hatte. Jetzt war ich mit dem Mädchen in Schwarz allein.
    »Du könntest dich wenigstens entschuldigen«, sagte ich zu ihr, als sie einfach nur schweigend dastand. Der Geruch des Kaffees, der in meinen Rollkragenpullover einsickerte, ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich hatte seit Wochen keinen Kaffee mehr getrunken.
    »Tut mir leid«, sagte das Mädchen flüchtig und sah mir auf eine Art und Weise in die Augen, die mir zu direkt war; lächelte, wie Leute lächeln, wenn sie ein Geheimnis kannten und es kaum erwarten konnten, es zu verraten. »Ich habe dich nicht gesehen«, fügte sie hinzu. »Ziemlich tollpatschig von mir, was?«
    Das Mädchen wirkte nicht wie ein Tollpatsch, sondern sah aus, als könnte es mit seinen spitzen Absätzen auf Eis gehen, ohne dabei auszurutschen.
    »Für welche Seite entscheidest du dich?«, fragte das Mädchen mich.
    »Hm?«
    »Die Frage auf den Treppenstufen. Für welche Seite entscheidest du dich?«
    »Was steht denn zur Auswahl?«
    »Wir«, sagte sie und legte eine Hand auf die Brust. »Oder sie.« Sie deutete mit einem Nicken auf die Jüngerin, die nach wie vor mit dem Jungen an dem Fahnenmasten sprach.
    »Wie wär’s mit keinem von beiden?«
    Das Mädchen lachte. »Du hast dir doch noch nicht mal meine Verkaufsmasche angehört. Die ist nämlich gut. Ich glaube, sie wird dir gefallen.«
    In diesem Augenblick schrillte die Schulglocke ein zweites Mal. Perfekt. Ich kam am ersten Tag, an dem ich wieder zur Schule ging, offiziell zu spät. Das Mädchen in Schwarz sollte lieber hoffen, dass mir dafür nicht aberkannt werden würde, wofür ich gekommen war.
    »Kein Interesse«, erwiderte ich.
    Das geheimnisvolle Lächeln verschwand, und sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ich gab ihr keine Gelegenheit. Ich schob mich an ihr vorbei ins Schulgebäude.
    Und blieb stehen.
    Mir klappte die Kinnlade herunter. Aus meinem Rachen ertönte ein Geräusch, das klang, als würde Luft aus einem kaputten Reifen entweichen.
    Der gesamte Eingangsbereich war auf einer Länge von ungefähr zehn Metern vom Boden bis zur Decke mit Fotos und Flugblättern tapeziert, und der Fliesenboden auf einer Seite des Gangs war mit Blumensträußen und einzelnen Blumen übersät. Ihr Duft hing schwer in der Luft. Ich widerstand dem Bedürfnis, mir mit der Hand Nase und Mund zuzuhalten, als hätte ich den Gestank von Abfall gerochen. Die ganze Schule roch nach Begräbnis.
    Ich ging zu einer Wand und betrachtete eine Fotocollage. Gesichter. Unzählige Gesichter. Erwachsene. Kinder. Ältere Frauen und Männer. Babys. Hunde. Katzen. Und Bildunterschriften, die meisten davon von Hand auf Zettel geschrieben und unter den Fotos angeheftet.
    Wir vermissen Dich so sehr.
    Ich werde Dich immer lieben.
    Wir werden Dich nie vergessen.
    Ich weiß, Du bist an einem besseren Ort.
    Ich sah Gedichte, längere Mitteilungen und Nachrufe und spürte, wie meine Augen brannten.
    »Diese Wand ist für die Toten.«
    Ich erschrak und zuckte zusammen. Mir war nicht aufgefallen, dass sich das Mädchen in Schwarz neben mich gestellt hatte.
    Ich blinzelte, um die Tränen zu vertreiben, ehe ich sie ansah. »Ja, das habe ich mir schon zusammengereimt.«
    Das Mädchen drehte sich um, wobei sein spitzer Absatz ein Rosenblütenblatt durchbohrte, und betrachtete die gegenüberliegende Wand. »Diese Wand ist für die Vermissten, für die Menschen, die nach dem Beben verschwunden waren. Für Menschen, die nicht gefunden wurden.«
    Ich dachte an meine Mom, die mit den Toten verschüttet gewesen war und darauf gewartet hatte zu ersticken. Was wäre gewesen, wenn sie nie gefunden worden wäre? Hätte ich ein Foto von ihr an diese Wand geheftet in der Hoffnung, dass sie irgendjemand gesehen hat? In der Hoffnung, dass sie noch am Leben war, dass sie in dem Durcheinander in irgendeinem Krankenhaus lag?
    Ich spürte Panik in mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher