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Die Auserwaehlte

Die Auserwaehlte

Titel: Die Auserwaehlte
Autoren: Raymond E. Feist
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hitzig gewesen. Lord Sezu, Herr der Acoma, war manchmal wie ein Harulth – das riesige Raubtier, das die Hirten und Jäger am meisten fürchteten –, und in einer Schlacht gegen Feinde konnte er sich wie ein Wahnsinniger gebärden. Niemals jedoch hatte er es fertiggebracht, seiner Tochter etwas abzuschlagen, wie unvernünftig ihre Forderungen auch gewesen sein mochten. Und wenn auch seine Beziehung zu ihrem Bruder in mancherlei Hinsicht viel intensiver und wichtiger gewesen war, so hatte er ihr gegenüber doch stets Nachsichtigkeit und Milde walten lassen. Nur ihre Amme Nacoya hatte sie während ihrer Kindheit bändigen können.
    Mara schloß die Augen. Die Barke bot ein bißchen Sicherheit, und sie konnte sich nun in den dunklen Schutz des Schlafes zurückziehen. Diejenigen auf der anderen Seite der Vorhänge, die diesen winzigen Pavillon bildeten, würden annehmen, daß sie der Langeweile einer langen Fahrt entfloh. Aber nur schwer fand sie die ersehnte Ruhe, denn Erinnerungen an den Bruder, den sie geliebt hatte wie den Atem in ihrer Lunge, drängten sich in ihre Gedanken. Lanokota mit seinen funkelnden, dunklen Augen, der stets ein Lächeln für seine angebetete kleine Schwester bereigehalten hatte. Lano, der schneller als jeder Krieger aus dem Haus seines Vaters rennen konnte und dreimal hintereinander die Sommerspiele in Sulan-Qu gewonnen hatte, eine Meisterleistung, die bis jetzt unübertroffen geblieben war. Lano hatte immer Zeit für Mara gehabt, hatte ihr sogar das Ringen beigebracht – und sich den Zorn ihrer Amme Nacoya zugezogen, weil er ein Mädchen zu solch unmädchenhaftem Zeitvertreib verführt hatte. Immer hatte Lano einen dummen – und gewöhnlich schmutzigen – Witz bereit, mit dem er seine Schwester zum Lachen und Erröten brachte. Mara wußte, daß jeder Bewerber an ihrem Bruder gemessen worden wäre, hätte sie nicht ein Leben der Besinnung gewählt. Lano, dessen glückliches Lachen nie mehr durch die Nacht hallen würde, wenn sie in der Halle zu Abend aßen. Selbst ihr Vater, ein durch und durch ernster Mann, hatte gelächelt – unfähig, sich dem ansteckenden Humor seines Sohnes zu entziehen. Mara hatte ihren Vater respektiert und bewundert, aber ihren Bruder hatte sie geliebt, und tiefe Trauer überschwemmte sie nun.
    Mara bekämpfte die aufwallenden Gefühle. Dies war nicht der rechte Ort, sie durfte erst später trauern. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf praktische Angelegenheiten. »Hat man die Leichen meines Vaters und meines Bruders geborgen?« wollte sie von Keyoke wissen.
    »Nein, Mylady, sie sind nicht gefunden worden«, antwortete Keyoke mit Bitterkeit in der Stimme.
    Mara biß sich auf die Lippen. Sie hatte also nicht einmal ihre Asche, um sie im Heiligen Hain bestatten zu können, sondern mußte statt dessen etwas auswählen, das an ihren Vater und ihren Bruder erinnerte, einen Gegenstand, den sie besonders liebgewonnen hatten. Sie würden dann neben dem heiligen Natami – so nannte man den Fels, der die Seele der Acoma enthielt – begraben werden, damit ihre Geister zurück zum Land der Acoma finden und dort neben ihren Ahnen die ersehnte Ruhe erhalten konnten, bis sich das Rad des Lebens von neuem drehte. Mara schloß wieder die Augen, zum Teil aus seelischer Erschöpfung, zum Teil, um die Tränen zurückzudrängen. Doch die Erinnerungen rüttelten sie immer wieder wach, und so versuchte sie erfolglos, sich auszuruhen. Dann, nach einigen Stunden, bekamen das Schaukeln des Bootes, der Gesang des Steuermanns und die antwortenden Verse der Sklaven etwas Vertrautes. Ihr Geist und ihr Körper paßten sich dem Rhythmus an, und sie entspannte sich. Die Wärme des Tages und die Ruhe des Flusses verbündeten sich schließlich, um Mara in einen tiefen Schlaf zu wiegen.

    Im topasfarbenen Licht der Morgendämmerung legte die Barke im Hafen von Sulan-Qu an. Nebel wirbelte in kleinen Spiralen vom Fluß auf, während Läden und Buden am Ufer ihre verhängten Fenster öffneten und sich auf den bevorstehenden Markt vorbereiteten. Keyoke sorgte dafür, daß Maras Sänfte zügig an Land getragen wurde, solange die Straßen noch frei von der erdrückenden Menge waren; schon bald würden Wagen und Träger, Käufer und Bettler durch die Marktstraßen drängen. In wenigen Minuten waren die Sklaven bereit. Immer noch in den weißen Umhang der Schwesternschaft Lashimas gekleidet, der mittlerweile vom sechstägigen Gebrauch reichlich zerknittert war, kletterte Mara müde in die
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