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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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ganze Haus wirkte verlassen, doch das würde sich ändern. Spätestens, wenn Munìs Einheit quer zum Hang vorstieß und die Eingangstür sprengte.
    »Einsatzgruppe 1 bereit«, flüsterte Nummer 1 ins Mikrofon. Der Mond war blass. Er hing über dem Palazzo Civico an der Stirnseite der Piazza. Im Glockenturm hatte sich ein Scharfschütze postieren sollen. Von ihm war genauso wenig zu sehen wie von den anderen Männern der dritten Einheit, die sich um das Untergeschoss kümmernwürden. Sie steckten wahrscheinlich hinter den parkenden Autos am gegenüberliegenden Ende der Piazza.
    Die Uhr am Palazzo Civico zeigte 20 nach 8, doch das war falsch. Es war 3 Uhr 56, und die Nacht war totenstill. Sicut nox silentes. Sie waren die Besten. Die Elite der italienischen Polizei. Munì fieberte darauf, dass es endlich losging. Nur das Warten zerrte an den Nerven. Und diese eisige Stille. Als ob die Welt den Atem anhielt, bis sie zu ersticken drohte. Munì konnte sein Herz klopfen hören. Tok … tok … tok. Es schlug langsam, regelmäßig, fast wie …
    »Freeze!«, hauchte Nummer 1.
    … fast wie ein Spazierstock, der auf Pflastersteinen aufgesetzt wird. Jemand ging die Gasse entlang, auf der Munì und die anderen gerade vorgerückt waren! Die Treppe hinab fliehen? Zum Zielobjekt hin? Noch hatten sie keinen Einsatzbefehl erhalten. Freeze! Sie waren dunkel gekleidet, sie waren eins mit dem Schatten der Steinbrüstung, sie rührten keinen Muskel, sie waren kalt, kaltblütig, sie erstarrten zu schwarzem Eis. Niemand würde sie sehen, auch wenn er in drei Metern Entfernung vorüberging. Nicht einmal, wenn er über die paar Stufen zum Treppenabsatz hinabblickte.
    Tok …tok. Dann war es still. Wer immer da gekommen war, er stand nun am oberen Ende der Treppe.
    Einen Spazierstock benutzt nur, wer schlecht zu Fuß ist, dachte Munì. Und so einer sollte keine Treppen steigen. Schon gar nicht nach unten. Und vor allem nicht diese Treppe. Das lag in seinem ureigenen Interesse.
    Im Gegensatz zu vielen alten Leuten schlief Costanza Marcantoni keineswegs schlecht, doch wenn sie erwachte, stand sie unverzüglich auf, mochte es 9 Uhr morgens, 19 Uhr abends oder 3 Uhr nachts sein. Ob es draußen hell oder dunkel war, interessierte sie nicht. Sie fütterte ihre Katzen, machte sich einen Milchkaffee, in den sie trockeneBiscotti stippte, wusch die Tasse sorgfältig aus, band sich ein schwarzes Kopftuch um, griff nach ihrem Gehstock und ging einkaufen. Wer immer ihr zuerst begegnete, wies sie sanft darauf hin, dass es schon seit Jahrzehnten keinen Laden mehr in Montesecco gebe.
    »So?«, fragte Costanza Marcantoni dann misstrauisch, ließ sich widerwillig nach Hause führen und in ihren Sessel setzen. Das Türschloss war vor Jahren ausgebaut worden, nachdem sich Costanza mehrmals ein-oder ausgesperrt hatte und der Schlüssel jedes Mal unauffindbar gewesen war. Wer sollte in Montesecco und noch dazu bei einer mittellosen Fünfundachtzigjährigen schon einbrechen?
    Tagsüber hatte man Costanza recht gut unter Kontrolle. Wenn sie sich aber nachts auf ihre Streifzüge begab, konnte es durchaus passieren, dass sie stundenlang durch die Gassen irrte, bis sie vergessen hatte, warum sie eigentlich aufgebrochen war. Doch Montesecco war ein kleines Dorf, und noch jedes Mal hatte sie bisher zurückgefunden.
    In einem Altersheim würde Costanza binnen einer Woche eingehen, davon waren alle überzeugt, mal abgesehen davon, dass sich ihre Geschwister Franco und Lidia die Kosten nie hätten leisten können. Sie mussten selbst schauen, wie sie über die Runden kamen, und andere Verwandtschaft hatte Costanza nicht. Für das bisschen an Lebensmitteln und Haushaltsgütern, das sie benötigte, legte das ganze Dorf zusammen. Marisa Curzio hatte sich bereit erklärt, jeden Dienstag und Freitag auch für Costanza in Pergola einzukaufen. Wenn sie ihr Kühlschrank und Vorratsschrank füllte, stand Costanza mit verschlossener Miene daneben und lief, sobald Marisa gegangen war, auf die Straße, um den Nächstbesten zu fragen, wer die Person gewesen sei, die gerade in ihr Haus eingedrungen war.
    »Das ist Marisa Curzio. Die kennst du doch, Costanza!«
    »Marisa Curzio?«
    »Die Tochter von Gianmaria Curzio, der vor acht Jahren verstorben ist.«
    »Aha«, sagte Costanza, doch ihr war anzusehen, dass sie kein Wort davon glaubte.
    Man wusste nicht genau, ob Costanza die Gesichter, die sie ein Leben lang begleitet hatten, noch vertraut vorkamen. Sicher war, dass sie Namen und
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