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Die Aldi-Welt

Die Aldi-Welt

Titel: Die Aldi-Welt
Autoren: Hannes Hintermeier
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Stunden nach Sonnenaufgang, zu Dutzenden vor einem billig gebauten Tempel, brachte vor dem elektrischen Tor das erste Opfer dar – ein kleines Metallstück, das in einen Opferstock auf Rädern geschoben wurde, damit dieser von der Gottheit freigegeben wurde. Dann begann der Kreuzweg. Die Tempelbesucher machten sich auf den Weg durch ein bemerkenswert simpel gestricktes Labyrinth, den fahrbaren Opferstock immer vor sich herschiebend, aber in einem komplizierten Muster mal nach links, mal nach rechts sich verneigend. Manchmal griffen sie hoch, manchmal gingen sie in die Knie, um kryptische Zeichen auf Flaschen oder Schachteln zu entziffern. Immer aber luden sie mehr und mehr in ihren Opferstock. Manche sparsam, als hätten sie heute mit der Gottheit kein allzu großes Geschäft vor, andere im Unmaß, auftürmend, raffend, ohne erkennbares Ziel. Am Ende aber vereinigten sie sich in geraden Linien und strebten dem Heiligtum zu. Dort verharrten sie minutenlang in stiller Demut, bewegten sich mit verhaltenem Schritt auf die Vestalinnen zu, die ihre Opfergaben ohne erkennbare Regung entgegennahmen. Sie berührten alle Speisen und Getränke mit flüchtiger Hand, ehe sie sie wieder in den Opferstock zurücklegten. Ob damit eine Segnung der Gaben verbunden war, läßt sich nur vermuten. Die Tempelbesucher wurden zumindest nicht entlassen, bevor sie den Dienerinnen der Gottheit wiederum, wie zuvor am Eingang, verschiedenfarbige Papierzettel und/oder Metallscheiben überreicht hatten, die jene, wiederum ohne erkennbare Regung, entgegennahmen und in einer ausfahrbaren Schublade versenkten.
    So gingen ihm die Gedanken aus dem Gleis, während er selbst sich technicolor in einem Historienschinken sah, barfuß in Sandalen, mit einem Leinengewande, auf dem Weg, dem Gotte Aldi in dessen Tempel zu huldigen. Er hatte sich oft gefragt, was in den Köpfen der anderen Kunden vorgehen mochte: War Einkaufen etwas geworden wie Zähne putzen oder Rasieren? Ein notwendiges Geschehen, über das nachzudenken sich nicht lohnte? Etwas, wo man seinen Körper hintrug wie zum Zahn- oder Frauenarzt, ein unvermeidliches Übel, ein technisierter Prozeß, der zwar seinsbestimmend war, dem die Großen (großes G) Denker keinen Gedanken gewidmet hatten. Die Banalität, der auch ein Nietzsche (wenigstens in der Vision Gottfried Benns) nicht entkommen konnte – »nach Aufschnitt jagen«? Aber das ist es doch, durchfuhr es ihn mit einem Maß an Verzweiflung, was die Shampoo-Katastrophe vergleichsweise spatzenhaft erscheinen läßt, das ist doch die Crux des sogenannten modernen Menschen, daß die Jagd nach Aufschnitt ins Reich des Bequem-Selbstverständlichen verwiesen ist. Gesetzt den Fall, es befände sich einer in Lohn und Brot, was ja nicht mehr allzu selbstverständlich ist – aber auch darüber schweigen ja unsere Großen leichthin. Wo war es denn, das Jägerdasein, Auge in Auge mit dem Mammut, nur du und dein Speer (und vielleicht dahinter noch die teuflische Falle – falls er die Umleitungsschilder nicht entdecken würde, der tumbe Büffel). Der Kampf mit gleichen Waffen, Zahn um Zahn, ein fintenreiches Anschleichen und Erlegen der Beute, im Einklang mit der Natur – komm, mach dich nicht lächerlich, du Konsumhanswurst: du und ein Mammut? Du, der du schon vor einem Dackel Reißaus nimmst, sofern er nur selbstsicher dir in die Augen schaut und die linke Lefze hochzieht? Du und Jagdtrieb, so domestiziert und fernbedienlerisch du geworden bist, immer schon gewesen bist. Sei froh, daß du kein Avocadopflücker im Kibbuz geworden bist, sogar das wäre dir doch schon zu beschwerlich. Du könntest, geht er mit sich selbst ins Gericht, ins Fertiggericht, noch nicht mal aus dem eigenen Garten überleben, weil: Kopfsalat nährt den Mann nicht, und geröstete Schnecken sind auf Dauer auch nicht abendfüllend. Der Lateinlehrer hatte in der 8. Klasse davon berichtet, daß eine der größten Blendungen der modernen Zeit Zahnpasta in Tuben sei. Daß man Zahnpasta jederzeit selbst, und zwar für einen Pfennigbetrag, herstellen könne. Aus Schlämmkreide, mit ein bißchen Wasser angerührt. Das schmecke zwar nicht so gut, habe aber den gleichen Effekt. Es sei weiß Gott überflüssig, Zahnpasta im Laden und in Tuben zu kaufen. Schlämmkreide, Wasser, ein Holzstückchen zum Umrühren. Basta. Zahnpasta, hatten sie damals auf dem Nachhauseweg gedacht, Zahnpasta: Diese Bastelanleitung hatte in ihm eine Art Zivilisationsschock ausgelöst. Die Erkenntnis, etwas so
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