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Die Aldi-Welt

Die Aldi-Welt

Titel: Die Aldi-Welt
Autoren: Hannes Hintermeier
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es ginge selten schlecht für ihn aus. Denn immer naht ab einer bestimmten Schlangenlänge Rettung, zunächst in Form eines Klingelzeichens. Dieses Signal aktiviert irgendwelche unsichtbaren Mitarbeiter, die in irgendeinem Kämmerchen »Kaffeepause« oder irgend so etwas machen. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Es ist kein schönes Klingeln, sondern ein schnarrendes, durchdringendes, keinen Aufschub duldendes Klingeln, das ihn da jetzt aus seiner Lethargie reißt, während er automatisch, versunken in seinen Phantasien aus Halsansatz und Kartoffelchips, Richtung Kasse gleitet. Getragen auf einer Welle von Mitmenschlichkeit, die nur ein Ziel hat: durch das Fegefeuer gehen, gereinigt werden vom Schmutz des Geldes. Kaum ist der Nachhall des gräßlichen Schnarrens verklungen, macht auch schon eine neue Kasse auf. Und du stehst in der falschen Reihe. Egal, der Hamsterkäufer hat bereits begonnen, seine Verpflegung für mehrere Hundertschaften von katholischen Jugendgruppen auf das Band zu legen. Will der damit noch durch den Atomkrieg kommen, oder habe ich irgendwelche Nachrichten nicht gehört? Ein leichter Duft weht ihn an, ein ferner Hauch von Parfüm, das so gar nicht hierher passen will. Leider ist er nicht mehr so wirklich auf dem laufenden, was an Düften en vogue ist, auf jeden Fall ist das etwas eher Klassisches, eher Richtung Chanel, aber dann doch wieder nicht – ob er mal: Gestatten Sie? – keinesfalls, das könnte fürchterlich in die Hose gehen. Zum Glück ist diese traumatische Poison-Welle vorbei, die damals aus allen U-Bahn-Schächten quoll, ein Volk, ein Duft, eine Wolke aus brüllendem Moschus. Damals hatte er immer gedacht, im nächsten Augenblick würde sich irgendein toll gewordenes Weib in brünstiger Verzückung mit dem nächsten Busfahrer paaren. Es war dann aber doch in der üblichen Überdosis abgeklungen. Wenn sie anfangen, damit zu gurgeln, ist Rettung nah. Eines Tages verschwinden die Flacons, irgendwer gibt eine neue Devise aus, und im Sommer drauf tun alle so, als hätten sie immer schon mit Issey Miyake gebadet oder mit Paloma Picasso geduscht – mamma mia! Ein siedend heißer Blitz durchfuhr ihn. Das Shampoo. Er hatte das Shampoo vergessen. Alle Prüfungen so glänzend gemeistert, und dann kurz vor dem Allerheiligsten diese Schmach. An Umkehr war nicht zu denken. Das hätte bedeutet, diagonal retour durch das ganze Geschäft, gegen die Kaufrichtung zu schieben, wegen des Shampoos Caribic für einsneunundfünfzig. Guter Rat war nicht mal teuer, er war nicht zu haben. Ein paar Tage würde die alte Flasche noch reichen, mit Wasser gestreckt vielleicht noch eine Woche. Aber der Unsicherheitsfaktor war zu groß. So viele Haare hatte er zwar nicht mehr zu versorgen, aber dennoch – er zögerte, der Film des Rückzugs zum Regal mit der Körperpflege lief rückwärts in rasender Geschwindigkeit, Abwägung sämtlicher Fürs und Widers, dann, offenbar einen Augenblick zu lang gezaudert: ein stechender Schmerz durchfuhr seine linke Ferse. Der Hintermann war aufgefahren. Er schnellte herum und blickte einem barbarisch dreinglotzenden Hominiden ins triefende Auge. Tschulligung, brummte das rotgesichtige Karohemd, nicht ohne ihm gleichzeitig mit einem erklärend-unwirschen Kopfnicken anzudeuten, daß die Karawane vor ihnen schon wieder wertvolle Meter vorgerückt war. Mit einem ärgerlichen Können-Sie-nicht-aufpassen-Mensch drehte er sich wieder in die vorgesehene Richtung, schüttelte sein Bein, um das Abflauen des Schmerzes zu beschleunigen, und entschloß sich, von solchen durchschlagenden Argumenten überzeugt, auf die Rettungsaktion Shampoo zu verzichten. Er hatte jetzt genug: Der Auffahrunfall war eine zu weltliche Komponente in einem sakralen Weihegang, so etwas konnte einem die ganze Andacht verderben. Profane Triebtäter allesamt, nur einladen husch, husch und wieder hinaus. Keinen Sinn für Choreographie, keinen Blick für die zugrunde liegenden Schrittfolgen einer solchen Konsumwallfahrt. Das war doch weiß Gott kein Zufall, wie sich die Menschen hier bewegten, auch wenn es ihnen vielleicht selbst nicht so bewußt war. Im Zeitraffer abgespult offenbarte sich doch erst die geheime Botschaft, flirrten auf den Steinfliesen die Nazca-Linien der gemeinsamen Treibjagd. Archäologen späterer Jahrhunderte würden vermutlich einige Mühe aufwenden müssen, um diesen Ritus zu deuten. War ja auch ein merkwürdiges Spiel: Man versammelte sich zu einer festgesetzten Uhrzeit, meist drei
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