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Die Akte Kachelmann

Die Akte Kachelmann

Titel: Die Akte Kachelmann
Autoren: Thomas Knellwolf
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nun zeigt, sieht er aus, als läge er unter eine Guillotine. Die obersten Knöpfe seines weißes Hemds – oder ist es ein Arztkittel? – sind offen, seine Augen sind geschlossen. Direkt über dem Hals, oberhalb des Kehlkopfs des weißhaarigen Gelehrten, ist das Messer waagrecht in den Apparat eingespannt. Die Klinge ist sicherheitshalber in einen dünnen Karton eingepackt.
    Der 71-Jährige erklärt nun, wie einer seiner Mitarbeiter die Maschine über ihm startete. Das Messer presste sich in den Hals. Der Mitarbeiter erhöhte den Druck. Bei 3,3 Kilogramm Belastungschnürte es Brinkmann den Atem ab. Der Mitarbeiter brach das Experiment ab. Fünf weitere Probanden ließen das gleiche Prozedere über sich ergehen. Sie mussten ebenfalls nach wenigen Sekunden Druck auf den Hals aufgeben. Bei niemandem entstanden länger sichtbare Verletzungen.
    Brinkmann berichtet im Mannheimer Landgericht auch von seinen «Faustschlagexperimenten»: Er zog sich Stoffhandschuhe an, tunkte seine Fäuste in blaue Farbe und boxte sich damit gegen die Oberschenkel. Es bildeten sich Flecken, die in der Form den Hämatomen an den Oberschenkeln von Sonja A. ähneln. Ihre Beinverletzungen, so mutmaßt Sonja A. aber, seien am ehesten entstanden, weil Jörg Kachelmann auf ihr gekniet habe. Brinkmann versuchte auch dies nachzustellen, malte seine Knie blau an, und drückte sie gegen einen zusammengerollten Arztkittel. Es bildeten sich Farbkreise, deren Form sich in den Augen Brinkmanns stark von den Hämatomen bei Sonja A. unterscheiden.
    Wenn Rechtsmediziner auf die populären TV-Serien über ihren Berufsstand angesprochen werden, behaupten sie gern, vieles sei nicht realitätsgetreu und übertrieben. Im Spezialfall Kachelmann jedoch verdichtet sich der Eindruck, die Fernsehrealität sei untertrieben. Jeder Forensiker scheint den anderen an Einfallsreichtum und Eifer übertreffen zu wollen.
    Angeregt durch Brinkmanns Ausführungen fängt nun auch Rainer Mattern nochmals an zu experimentieren. Der einzige Rechtsmediziner, der auf der Seite der Verteidigung sitzt, hatte Sonja A. wenige Stunden und nochmals zwei Tage nach der mutmaßlichen Tat untersucht und das erste Gutachten im Fall Kachelmann geschrieben. Brinkmann machte in seinen Schriften keinen Hehl daraus, dass er von Matterns Expertise wenig hielt. Vor Gericht betonte er den Nachnamen des Heidelberger Kollegen und Konkurrenten konsequent falsch auf der ersten Silbe.
    Staatsanwalt Oltrogge hingegen hat Mattern als «Uwe Seeler der Rechtsmedizin» bezeichnet – in Anlehnung an Birkenstocks «Beckenbauer» Brinkmann. Professor Mattern war zwar auch zu dem Schluss gekommen: «Alle Verletzungen sind durch Selbstbeibringung möglich.»Seine Schriftsätze deuten aber eher darauf hin, dass er eine andere Variante für wahrscheinlicher hält: dass sich «die Verletzungen mit dem geschilderten Tatgeschehen in Einklang bringen lassen».
    Ein dreiviertel Jahr nach seiner ersten Untersuchung hat Mattern Sonja A. nochmals zu sich ins Institut gebeten. Er hat die Zeugin, wie er sagt, zu einem Versuch «überredet». «Ich muss bei allem mitmachen», habe Sonja A. erklärt, «sonst glaubt mir doch keiner.» Mattern wollte überprüfen, ob die Acht-Zentimeter-Klinge des Tramontina-Messers überhaupt zu ihrer Schürwunde passt.»
    Mattern hat die angebliche Tatwaffe, das Original, auf seinem Schreibtisch bereitgelegt, nicht offen, etwas versteckt. Dann hat er das Messer genommen und der einen Kopf größeren Frau vor ihm waagrecht an die Halsmitte gehalten. Sonja A., so erzählt Mattern, ist «sofort in Tränen ausgebrochen, sie begann zu zittern, ihre Stimmlage kletterte in die Höhe». Mit wachen großen Augen verfolgt Jörg Kachelmann, wie Mattern sagt, dass er daraufhin seinen Versuch abgebrochen habe.
    Mattern hat bei sich im Institut eine Mitarbeiterin gebeten, sich mit der stumpfen Seite des Tramontina-Messers am Hals zu schaben – so heftig, wie es sich ertragen lässt. Der Frau gelingt es laut Mattern, eine ähnliche Verletzung zu produzieren, wie er sie bei Sonja A. gesehen hatte. Allerdings ist auch die Schürfung der Mitarbeiterin schnell wieder verschwunden. «Mit dem Messerrücken können solche Befunde erzeugt werden», ist Mattern – im Gegensatz zu Brinkmann – überzeugt. «Man muss aber schon fest drücken.»
    Jörg Kachelmann beschäftigt sich im Gerichtssaal immer öfter mit seinem iPad. Nach zehn Monaten Pause hat er wieder angefangen zu twittern: nicht über die Verhandlung oder
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